Vermeidung von Totalen

■ Paul Grahams Fotozyklus "Empty Heaven" wird dieser Tage in altarhaften, ahnungsvollen Kombinationen im Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert

Kunstfotografie ist durchgesetzt. Ein Museum, daß sich ausschließlich über Skulpturen und gemalte Bilder definiert, wirkt altmodisch. Wer neu anfängt, wie das Kunstmuseum Wolfsburg (vor zwei Jahren), kann den Status des Neuen über das Engagement für fotografische Werke signalisieren.

So war im Laufe dieses Jahres in der gigantischen Haupthalle eine umwerfende Retrospektive von Gilbert und George zu sehen, Künstler, die mit Fotografie arbeiten, aber in der Technologie der Manipulation so interessant sind, daß die Frage der „Kamerafotografie“ (wie wurden die Bilder aufgenommen und warum?) nicht weiter von Interesse ist. Man Ray dagegen, der im zweistöckigen Nebentrakt des Museums mit seinen Fotografien gezeigt wurde, ist im Kontext klassischer Fotografie durchaus nicht mißverstanden.

Das postmoderne Museum hat also den doppelten Blick auf Fotografie: sie ist in Ordnung als Technik, um Bildwerke hervorzubringen, und es gibt sie parallel in Kamerafotografien.

Das gilt auch für die Deichtorhallen in Hamburg, wo zum Beispiel Cindy Sherman gezeigt wurde, aber nicht als Fotografin, und Andreas Gursky, sehr wohl als Fotograf. Erst wenn das Publikum beides kennt, versteht es den Unterschied.

In Wolfsburg werden jetzt Fotografien von Paul Graham gezeigt, an derselben Stelle wie zuvor die von Man Ray. Graham ist ein Kamerafotograf – das heißt er fotografiert so, daß im Prinzip im Akt der Aufnahme bereits jenes Bild hergestellt wird, das später ausgestellt wird.

Vorsicht: Japaner denken schneller

Aber seine Präsentation ist prätentiös und pompös: Farbfotografien ohne Passepartout in schwarzen Holzrahmen in diversen Größen, mal einzeln gehängt, dann in ahnungsvoller Nachbarschaft zueinander, dann in altarhaften Kombinationen.

„Empty Heaven“ heißt, in hohler Metaphorik, die Arbeit, die seit 1989 in Japan entstanden ist. Entnervender als die Begrenztheit der Motive sind deren aufdringliche Kombinationen: Zwei Hochformate älterer Männer im Halbprofil rahmen ein Querformat mit geblitzten Sichten in nagelneue Automotoren. Vorsicht! schwant uns: die Japaner denken schneller. Ein Triptychon, das ähnliche Menschenbilder mit „Künstlichen Kirschblüten“ zusammenbringt, läßt durchblicken: die japanische Tradition ist überall, aber Shishi.

Vor einiger Zeit hat Graham ein Buch gemacht, das „Europe“ heißt und mit intensiven Nahsichten argumentiert. Wie die Fotografie anderer Fotografen (auch Bildjournalisten), meidet auch Graham die Totale. Unterstellt ist: Wir leben in einer dichtgestrickten, hochvernetzten, undurchschaubaren Welt, in der die Dinge mit blendenden Reflexen aus dem Dunkel auf uns zufliegen.

Wobei Graham die Bildgrammatik von „Europe“ eben nur teils, und dann nicht überzeugend, auf Japan überträgt. Er steht unter dem Bann der Männergeschichten von Ozu, der Hiroshima-Reflektion von Resnais, und des allgegenwärtigen Lieblingsfrauenbilds der Japaner: die kleinen Süßen.

Ist es denn nicht möglich, Japan „zu sehen“? Die Vernetzung, die Warenwelt, die Disziplin; die Exzentrik, den schrillen Chic, die Reste von Zen? Die Leute und die Städte?

Affektierte Lehrmeisterei

Doch, es ist möglich, nämlich im Werk des japanischen Fotografen Araki, eines magischen Tausendsassas. Auch in seinem Werk sind viele Frauen zu sehen, aber das Leitmotiv ist die krasse sexuelle Dynamik, mit der sie sich darstellen. Araki ist längst zwischen Baum und Rinde, während Graham den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Seine Erfahrungsarmut, seine biedere Beschränkung, seine umständliche Postmodernität versucht der englische Künstler als Vorsatz zu verkaufen. Er ist damit ein Beispiel für einen bedauerlichen Trend in der Kamerafotografie, die lieber Kunst-mit-Fotografie wäre: es fehlt an Neugier.

Es dominiert eine affektierte Lehrmeisterei „des Blicks“, die nichts mehr besagt, als daß der Markt als Kunst aufnimmt, was nach Kunst aussieht. Das Problem ist, leider, aus den länger etablierten Genres bereits bekannt. Ulf Erdmann Ziegler

Paul Graham: „Empty Heaven, Fotografien aus Japan 1989–1995“. Bis 12. 11., Kunstmuseum Wolfsburg. Als Buch im Scalo Verlag, 58 DM