Zwei, die mit dem Eimer philosophieren

Etwas Mehl, Eier, kneten – fertig ist die Zivilisationskritik: Uraufführung von Einar Schleefs „Wezel“  ■ Von Gerhard Preußer

Sondershausen und Sangerhausen, 30 Kilometer voneinander entfernt, links und rechts des Kyffhäusers, zwei kleine Vaterstädtchen großer Muttersöhne: hier sind Johann Karl Wezel und Einar Schleef geboren.

Wezel, der Zeitgenosse Goethes, Romancier, Theaterautor, Satiriker und Philosoph, wird seit seiner Wiederentdeckung durch Arno Schmidt von gewöhnlich gut informierten Germanisten zum Gegenpapst der Anti-Klassik ausgerufen. Schleef, Zeitgenosse unserer Tage, Romancier, Theaterautor, Regisseur und Maler, wird seit der Verleihung des diesjährigen Mülheimer Theaterpreises von ungewöhnlich gutmeinenden Theaterkritikern zum Theaterautor des Jahres aufgebaut. Wezel und Schleef, zwei empfindliche deutsche Berserker, zwei unfeine Sensibilisten, zwei, die mit dem Eimer philosophieren.

Wezel hat Konjunktur, nicht auf dem gemeinen Büchermarkt, aber auf dem Markt der Dissertationen, weil er in den Zeitgeist paßt. Fortschritts- und Vernunftkritik, die Nachtseite der Aufklärung, suchte und fand man bei ihm. Hier glaubt man, einen Kronzeugen gegen deutschen Idealismus und Humanitätsgedusel gefunden zu haben.

Schleefs Riesenroman „Gertrud“, geschrieben nach seiner Flucht aus der DDR 1976 als innerer Monolog seiner Mutter, wurde beachtet und blieb ungelesen. Seine Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt/Main zwischen 1986 und 1990 wurden viel geschmäht, erst seine Inszenierung von Hochhuths „Wessis in Weimar“ am Berliner Ensemble machte ihn zum Allerweltsbuhmann des Regietheaters. Da er seitdem nicht mehr inszenieren konnte, wird man aufmerksam auf seine älteren Stücke. Das jetzt uraufgeführte Stück „Wezel“ liegt schon seit 1983 als Buch vor.

Schleef hat sich in seinem ersten veröffentlichten Stück seinen Landsmann Wezel als Paten erkoren, und Schreibender und Geschriebener vermischen sich denn auch unauflöslich. Wezel verknüpft auf unnachahmlich Schleefsche Weise kurzschlüssig treffend Poetologie und Individualpsychologie: „Es will die Form nicht passen, es paßt die Mutter nicht... Haß deine Welt, du mußt die Mutter hassen.“ Doch alle anderen Figuren des Stückes sind ebenfalls Wezel/Schleef. Wezel lebte seit 1788 zurückgezogen und möglicherweise geistig verwirrt in Sondershausen, ein früher Hölderlin der Aufklärung, ein züchtiger deutscher de Sade: „Normal ist, was mich kränker macht“, sagt er bei Schleef. Das Stück ist ein Spiel für Stimmen in Wezels hellsichtig verwirrtem Kopf. Das ist im Theater so schwer zu machen, daß niemand, nicht einmal der Autor selbst, der sein Stück „Schauspieler“ selbst uraufgeführt hat, sich daran gewagt hat.

Da kam das kleine Theater Nordhausen mit seinem fidelen neuen Intendanten Christoph Nix, der als Zirkusclown und Strafrechtler gleich guten Ruf genießt, und besann sich auf seine Spielstätte im Nachbarort: das Achteckhaus, eine sonst als Konzerthaus genutzte, schnuckelig verzierte Reithalle aus dem 18. Jahrhundert auf dem Sondershäuser Schloß. So nahm denn unter den Auspizien kritischer Heimatpflege das Unheil seinen Lauf.

Man nehme zwei Pfund Mehl, drei Eier, knete heftig zehn Minuten, fertig ist die Zivilisationskritik. So einfach denkt sich Peter Staatsmann das. Er ist Regisseur, nicht Koch. Acht Frauen im Achtecksaal demonstrieren dieses Minimalrezept (ohne Fett!), stöhnen und zischen dazu, dann rezitieren sie Klassisches, und wenn sie bei Goethes „Prometheus“ angelangt sind („forme Menschen nach meinem Bilde“) und die Teigmännchenproduktion beginnen könnte, fängt Schleefs Stück an. Wezel sitzt im Backtrog, suhlt sich in brauner Torfsoße und ist eine Frau.

Was folgt, ist altmodisches Deklamationstheater mit einigen hektischen, querschlägerhaften Bildern. Damit das Feindbild „Klassik“ auch recht deutlich wird, wird neben Goethe auch Schiller noch mit Bruchstücken aus „Kabale und Liebe“ herbeizitiert. Damit die Gleichung Idealismus gleich Faschismus schön provokativ rüberkommt, werden ein paar Goebbels-Zitate eingeschmuggelt. Nur einmal erreicht die Inszenierung den brachialen Aberwitz von Schleefs eigenen Inszenierungen: Dann singen alle Frauen mehrstimmig das „Heideröslein“ und werfen im Rhythmus dazu ihre Teigklöße auf die Metalltische: ein donnernder Beweis der Destruktionskraft weiblicher Sentimentalität. Aber schon bei der Wiederholung dieses Knetmarsches zur Begleitung des Horst-Wessel-Liedes ist wieder alles wie bekannt.

Nach der Pause wird dann das Grundrezept variiert: Man nehme acht Kilo Teig und eine nackte Frau, bestäube sie mit reichlich Mehl, pinsele sie mit Himbeersoße oder Blut gut ein, stampfe den Teigkloß mit den Füßen flach und wickele das Fleisch dann in den Fladen ein: fertig ist der „Realismus der Stoffe und der Leiber“ (Staatsmann). Man merke: Materie (mater = weiblich!) wird Form (= Patriarchat!), Mensch wird Backwerk (= Auschwitz!).

Am Ende, nach gut drei Stunden, stehen die Frauen in Ritterrüstung aufgereiht. Frau Wezel greift die Deutschlandfahne, und alle singen einen innigen Choral. Zivilisation ist Patriarchat ist Aufklärung ist Militarismus ist Protestantismus ist Faschismus, Faschismus muß weg! Es lebe das Chaos und der Katholizismus! Staatsmann kritisiert in seinem Pressetext das avantgardistische Theater als Theater der Bilderwitze. Er zeigt Bilder ohne Witz.

Das System der Identifizierungen setzt sich fort: Wie Wezel Schleef ist, so möchte Staatsmann Schleef sein. Was bei Schleef aber zumindest manchmal bedrängend und intensiv ist, obsessive Wiederholungen, harte Rhythmen, ist hier nur betriebsam und spannungslos. „Was sind mir Theater-, Konzertgebäude“, sagt der Kaiser in Schleefs „Wezel“, „wenn's drinne quiekt und schnarcht?“

Einar Schleef: „Wezel“. Theater Nordhausen (Achteckhaus Sondershausen). Regie: Peter Staatsmann. Weitere Vorstellungen: 13., 14. und 15. Oktober