Haushaltspoker und Endzeitstimmung in Wien

■ Zerbricht die Koalition, könnten Haiders „Freiheitliche“ stärkste Partei werden

Wien (taz) – Es war ein österreichischer Christsozialer von kurzer Statur, Kanzler Engelbert Dollfuß, der 1933 das Wiener Parlament auflöste und so das Ende der Ersten Republik besiegelte. Die Folgen sind bekannt: Bürgerkrieg im Februar 1934, austrofaschistische Diktatur, 1938 der Anschluß an Hitler-Deutschland.

1995 ist nicht 1933. Die „Österreichische Volkspartei“ (ÖVP) ist keine ständisch-autoritäre Partei wie ihre Vorläufer, die Christsozialen. Doch zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert hasardiert ein zu kurz gewachsener konservativer Parteiführer mit dem Institutionengefüge der österreichischen Republik. Wolfgang Schüssel, Vizekanzler und ÖVP-Chef seit dem Frühjahr, könnte sehenden Auges zum Wegbereiter jener „Dritten Republik“ werden, die mit zunehmendem Erfolg von Jörg Haiders „Freiheitlicher Bewegung“ (F) herbeipropagiert wird. Der Anlaß für den staatspolitischen Parforceritt des Vizekanzlers und Außenministers: Bislang konnte sich die seit neun Jahren amtierende Große Koalition nicht auf den Haushalt 1996 einigen. Die ÖVP- Unterhändler wiederholen gebetsmühlenartig ihre Wortfetzen von einer „ausgabenseitigen Gesundung der Staatsfinanzen“ und reden ansonsten einem scharfen Austeritätsprogramm das Wort.

Hauptverlierer wären Rentner, sozial Schwache, junge Leute in Ausbildung. Die Sozialdemokraten vertrauten bis zuletzt auf die Verhandlungsschwäche der Volkspartei. Doch der neue ÖVP-Chef will den Bruch offenbar provozieren. Als er die Verhandlungen am Wochenende platzen ließ, blieben die SPÖ-Größen ratlos und vereinsamt zurück. SPÖ-Fraktionschef Peter Kostelka fassungslos: „Zum Verhandeln braucht man zwei, zum aufstehen und weggehen reicht einer.“

Es scheint, als hätte sich die Volkspartei zu russischem Polit- Roulette entschlossen. Denn in den nur zwölf Monaten seit den Parlamentswahlen 1994 hat sich die politische Landschaft gewaltig verändert. In den neuesten Umfragen liegt die Sozialdemokratie nur noch bei 29 bis 31 Prozent, die ÖVP bei 27 bis 29 Prozent, die Freiheitlichen rangieren bereits bei 26 bis 28 Prozent (Ergebnis 1994: 35, 28, 23).

ÖVP-Chef Schüssel will offenbar die – vielleicht letzte – Chance nützen, die Vorherrschaft der Sozialdemokraten zu brechen. Denn seit dem Amtsantritt von Bruno Kreisky 1970 stellt die SPÖ kontinuierlich den Kanzler. Andreas Khol, der Fraktionschef und Scharfmacher in den Reihen der Christkonservativen, versuchte sich zuletzt in immer verwegenerer Wahlkampfrhetorik: „25 Jahre Sozialismus sind genug.“ Nach vielen Anläufen und ebenso vielen Enttäuschungen könnte es, so hofft die ÖVP, ihr als einzig staatstragender Partei gelingen, die SPÖ zu überrunden und Anspruch auf das Kanzleramt zu stellen. Das Risiko: Angesichts des drohenden Wahlkampf-Thrills kann niemand den Ausgang vorhersagen.

Sollte die ÖVP im Laufe dieser Woche die Koalition aufkündigen, durchaus nichts unwahrscheinliches, könnte noch im Dezember gewählt werden. Im Grunde sind drei Szenarien möglich. Erstens: Es gelingt der Volkspartei, die Mehrheit zu erkämpfen. Dann wird ÖVP-Chef Schüssel mit der Regierungsbildung betraut. Mit wem aber will er koalieren? Wieder mit der SPÖ, diesmal aber unter umgekehrtem Kräfteverhältnis? Oder doch mit Haider ein rechts-populistisches Wendekabinett à la Berlusconi bilden?

Zweitens: Der krisengeschüttelten SPÖ, zuletzt beinahe im freien Fall, gelingt es ein weiteres Mal, mit der Warnung vor einem ÖVP/ F-Kabinett zu mobilisieren; sie überspringt die 30-Prozent-Marke und bleibt stärkste Partei. Was dann? Eine Neuauflage der eben gescheiterten Großen Koalition? Andererseits wäre dann eine ÖVP/ F-Regierung, obwohl höchstwahrscheinlich rechnerisch möglich, unwahrscheinlich. Kaum realistisch, aber nicht vollkommen ausgeschlossen ist auch, daß SPÖ, Grüne und Liberale (letzteren traut man sieben bis neun beziehungsweise vier bis sechs Prozent zu) eine knappe Regierungsmehrheit gewinnen. Dann aber wäre die Ampel wahrscheinlich.

Drittens: der worst case. Die Wähler strafen sowohl SPÖ als auch ÖVP für das Haushaltsdebakel ab, und Haiders Freiheitliche werden stärkste Partei.

Ein historisches Paradoxon: Jahrzehntelang war Nachkriegs- Österreich ein Hort übergroßer Stabilität. Ein Land, in dem unverrückbar scheinende Machtblöcke den Staat untereinander aufteilten. Die populistische Herausforderung durch die Haider-Partei war die Folge. Die Reaktion darauf diese Herausforderung: Der Stabilitätsreflex der Großen Koalition. Die Talfahrt ging weiter, das Koalitionsverhalten risikoreicher. Das Regieren wird kompliziert in Österreich. Robert Misik

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