Ein Held unserer Zeit

Das Leben zusammenhalten: Sigmund Freuds „Tagebuch 1929–1939“ zum Sprechen gebracht  ■ Von Michael Schröter

Es klingt wie eine Sensation. Ein Tagebuch von Sigmund Freud? Also vergleichsweise ungeschützte Erzählungen, Arbeitsnotizen, Reflexionen, Einblicke in den Privat- oder gar Intimbereich, wie wir sie von berühmten Tagebuchschreibern kennen? Und das aus der Feder des Begründers der Psychoanalyse, der so viel dazu beigetragen hat, den Bereich sozial zulässiger Mitteilungen über menschliche Erfahrung zu erweitern?

Wer das „Tagebuch 1929–1939“ mit solchen Erwartungen in die Hand nimmt, ist einem kommerziellen Etikettenschwindel erlegen. Der Freud- Text, der darin abgedruckt und nach dem der Band benannt ist, bietet das Gegenteil: 20 Blätter, auf denen stichwortartig und mit Datum die Tagesereignisse vermerkt sind, die dem Schreiber in seinen letzten elf Jahren am wichtigsten waren. Bloße Ausrufungszeichen im Strom des Lebens, ohne jedes narrative, deutende, expressive Element, sagen wir: Die Gedächtnisstütze eines alternden Mannes. Die Existenz des Textes war bekannt, er ist schon mehrfach ausgewertet worden.

Freud war ein so eingefleischter Schriftsteller, daß er auch für diese anspruchslosen Notate einen eigenwilligen, passenden Titel fand. Er nannte sie „Kürzeste Chronik“. Die „Chronik“ steht neben den Listen der eingegangenen und ausgesandten Briefe, die er, ein leidenschaftlicher Ordner seines weitgespannten Lebens, gleichzeitig anlegte, und hat, wie in den mittelalterlichen Anfängen chronikalischer Privataufzeichnungen, eine größere Verwandtschaft mit dem Genre des Konto- als mit dem des Tagebuchs.

Der Band bringt zu Beginn die „Kürzeste Chronik“ im Faksimile mit Umschrift. Derart verdoppelt füllt der Text zirka zehn Prozent der Seiten. Der große Rest besteht aus Beiträgen des Herausgebers Michael Molnar, Research Director am Freud-Museum in London. Etwas pointiert könnte man sagen, das Buch läuft unter dem falschen Autorennamen. Es handelt sich im Grunde um ein Werk des Herausgebers und nicht um eines von Freud.

Molnar hatte primär die Aufgabe, eine karge, weithin unverständliche Quelle zu edieren. Aber er hat etwas Eigenartiges und Eindrucksvolles geschaffen. Die „Kürzeste Chronik“ wurde von ihm wie das Inhaltsverzeichnis eines biographischen Kaleidoskops benutzt, dessen Akzente und Themen vom Helden selbst vorgegeben sind. Das heißt, er arbeitete seine editorischen Anmerkungen zu selbständigen Miszellen aus und erhob sie zum wahren Haupttext, für den die Einträge Freuds jeweils die Überschriften bilden. Dazwischengeschaltete Jahresübersichten bieten die nötige Orientierungshilfe. So, und nur so, entstand ein Buch, das man zwar nicht fortlaufend lesen, in dem man aber unentwegt schmökern kann.

Greifen wir den Anfang heraus. Freud schreibt: „31. Okt. [1929] im Nobelpreis übergangen / So 2. Nov. Erste Tarockpartie – Besuch Rickman / Di 4. mit Fingereiterung bei Schnitzler / Mi 5. Almanach, Vorwort für Eitingon“; und weiter, in Auswahl: „Antisemit. Unruhen – Dioscurenring / Adda weggegeben / Erster Abend Yvette / Prinzessin abgereist / Anna's Geburtstag, 34 J.“

Für sich genommen, bleibt diese Liste stumm. Jeder Eintrag verweist auf Bedeutsames, aber die Bedeutsamkeit wird nicht ausgeführt. Sie war dem Schreiber bekannt, ihm genügte ein Stichwort, um sie zu evozieren, und Leser hatte er nicht im Blick. Den sozialen Bezug auf ein Publikum hat erst der Herausgeber dem hermetisch privaten Text hinzugefügt.

Molnar erläutert also im Hauptteil seines Buches, daß Freud seit den 1890er Jahren regelmäßig am Samstag abend Tarock spielte, ein für Familie und Freunde sakrosankter Termin. Er berichtet über den Jahresrhythmus des alten Freud, der, wenn er konnte, von Mai bis Oktober eine Sommerfrische bezog. Es folgen biographische Angaben über den englischen Psychoanalytiker John Rickman und über den Chirurgen und Internisten Julius Schnitzler, einen Bruder von Arthur. Der „Almanach der Psychoanalyse“, eine der periodischen Veröffentlichungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, wird vorgestellt, dann die Broschüre „Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut“, zu der Freud ein Vorwort beisteuerte, um ihren Gründer Max Eitingon, damals sein unentbehrlichster Mitarbeiter und Freund, zu ehren.

Der „Dioskurenring“ ist die erste von vielen Antiquitäten, deren Kauf in der „Chronik“ notiert wird. „Adda“ scheint einer der Freudschen Hunde zu sein. Prinzessin Marie Bonaparte war eine Patientin, Schülerin und vertraute Freundin, die Entscheidendes zur Verbreitung der Psychoanalyse in Frankreich beitrug. Freuds Tochter Anna wurde nach 1923 zunehmend, als Pflegerin, Sekretärin, Kollegin und Stellvertreterin in der Öffentlichkeit, zur wichtigsten Figur seines Lebens. Sie wird in der „Chronik“ häufiger erwähnt als irgend jemand sonst, eingeschlossen Freuds Ehefrau.

Molnars Miszellen helfen zu verstehen, warum Freud gerade diese Ereignisse durch ein Ausrufungszeichen hervorhob. Denn die große Provokation der „Chronik“ ist die Frage nach den Kriterien, die der Auswahl des Schreibers zugrunde lagen. Auf den ersten Blick sieht man nur Kraut und Rüben, vieles davon scheinbar belanglos. Bei genauerem Hinschauen beginnt man zu ahnen, daß es um den haltenden Rahmen von Freuds Leben (abseits des Berufes) ging.

Im Vordergrund steht die Gesundheit, die seit der Krebsoperation von 1923 tödlich gefährdet war. Freud war damals ein Großteil des Oberkiefers entfernt worden, er mußte eine Mundprothese tragen, die ihm überhaupt erst das Essen und Sprechen erlaubte und um deren Verbesserung er andauernd kämpfte. Ab 1931 kam der Kampf gegen den Krebs selbst hinzu. Viele Stationen dieses Leidensweges sind in der „Chronik“ vermerkt.

Zum haltenden Rahmen gehörte ferner die zahlreiche Familie, erweitert durch Freunde (und nicht zu vergessen, die geliebten Hunde), das Geld, die suchtartigen Freuden des Rauchens und des Sammelns von Antiquitäten, der Verein von Anhängern und Kollegen, der den Fortbestand von Freuds Werk sicherte, der eigene Verlag, dem er nach dem Ersten Weltkrieg ein geradezu verbohrtes Interesse schenkte, der nie recht auf die Füße kam und der ihm doch als Garant der publizistischen Unabhängigkeit unverzichtbar war.

Auch der politische Friede gehörte dazu. Schon im November 1929 verzeichnete Freud „Antisemitische Unruhen“. Dann kam 1933, der Beginn vom vorläufigen Ende der organisierten Psychoanalyse in Deutschland, es kam ein Rechtsruck in Österreich, schließlich der gewaltsame „Anschluß“, der Freud gegen sein langes Sträuben ins Exil nach England trieb. Im Jahr 1938 überträgt sich die Dramatik der Ereignisse sogar auf die dürre Liste der „Chronik“, so am 11. März („Abdankung Schuschniggs“) in den Worten „Finis Austriae“, die wie von einem richtenden Propheten gesprochen sind.

Demgegenüber bleibt das Zentrum des Freudschen Lebens seltsam unbeleuchtet. Seit er die Grundlagen der Psychoanalyse geschaffen hatte, arbeitete Freud mit aller Kraft für sein Werk, für dessen innere und äußere Entfaltung. Aber in der „Kürzesten Chronik“ ist es nur durch die Daten des Beginns und Abschlusses von Manuskripten sowie des Erscheinens der Bücher, auch im Ausland, vertreten. Sonst kommt der Forscher und Autor Freud nicht vor. Die Manuskripte selbst werden weniger. Die „Chronik“ dokumentiert, wie die Sorge um den „Rahmen“, die Sorge um den „Kern“ überwucherte und das Überleben fast zum Selbstzweck wurde. Sie ist nach Form und Inhalt ein Zeugnis des Alterns.

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Deutlicher als der Autor tritt der erfolgreiche Organisator hervor, zu dem sich Freud im Dienst seines Werks entwickelte. Und deutlich wird sein Bedürfnis nach Anerkennung, das den Anstoß zur Niederschrift der „Chronik“ gegeben zu haben scheint („im Nobelpreis übergangen“).

Kurzum, das Material, das hier präsentiert wird, ist alles andere als erhaben. Aber vielleicht liegt sein Interesse für uns gerade in diesem irdischen Gewicht. Die „Kürzeste Chronik“ läßt etwas von den Voraussetzungen erkennen, die das erhabene Werk ermöglichten.

Das biographische Kaleidoskop, das der Herausgeber anhand dieses Freud-Textes zusammengestellt hat, ist vorzüglich recherchiert. Immer wieder werden auch originelle motivische Verknüpfungen im gesamten ×uvre aufgespürt und anregend gedeutet. Wo er sein Eigenstes gibt, besonders in der Einleitung, tritt Molnar an Freud vor allem als nachdenklich- sensibler Literaturwissenschaftler heran. Viele seiner Erläuterungen rufen Bekanntes in Erinnerung, viele enthalten auch für den Spezialisten Neues. Einen besonderen Genuß bieten die zahlreichen Zitate aus zumeist unveröffentlichten Freud- Briefen, die Molnar bringt und die daran erinnern, daß Freuds Briefe ein veritables zweites ×uvre neben dem wissenschaftlichen bilden – wenn man so will, ein wirklich aussagekräftiges, weil soziales „Tagebuch“. Mit diesen Zitaten werden zugleich die archivalischen Schätze des Londoner Freud-Museums vorgestellt, das nach dem Tod von Anna Freund in Freuds letzter Wohnung als Kult- und Forschungsstätte eingerichtet wurde.

Molnars Werk ist nicht nur ein Buch zum Schmökern, sondern auch ein Bilderbuch. Es sind darin die meisten der im Text erwähnten Antiquitäten Freuds abgebildet, seine Freunde, seine Angehörigen etc. Vor allem wird ein ganzes Album von bisher unbekannten Privatphotos ausgebreitet, die Freud anders als in seinen statuarischen offiziellen Photos zeigen – mit zurückgeschlagener Jacke (die dann aber doch nicht mehr enthüllt als eine sorgfältig zugeknöpfte Weste). In der Kombination von Text und Bild entstand ein Prachtband, auf den der Verlag der englischen Originalausgabe von 1993 viel ästhetische Mühe verwandt hat. (Die Druckfahnen der deutschen Ausgabe, die dieser Rezension zugrunde liegen, enthalten noch keine Abbildungen.)

Dem ästhetischen Reiz des Bandes entspricht Molnars sprachliche Eleganz. Das aber gilt leider nur für das Original. In der deutschen Übersetzung wird die Lektüre durch manche Ungeschicklichkeiten, Ungenauigkeiten und Fehler gestört.

Insgesamt, gerade in der Fülle allzumenschlicher Details, ein Buch für Verehrer. Es kann nur von Lesern goutiert werden, die von der Bedeutung Freuds überzeugt sind. Sie müssen ihn, mehr noch, in den Rang eines weltlichen Heiligen oder Heros erhoben haben, bei dem es Befriedigung verschafft, an den Saum seines Gewandes zu rühren – seine eigene Handschrift zu lesen oder zu erfahren, warum er welche Chansonette (Yvette Guilbert) schätzte.

Molnar, der das Kontobuch eines zu Ende gehenden Lebens wie einen heiligen Text ausgelegt und kommentiert hat, gehört gewiß zu dieser Gruppe, die über den engeren Kreis der Psychoanalytiker hinaus viele ihrer vormaligen, aktuellen und potentiellen Patienten umfaßt.

Wer nach dem Sinn eines solchen Unternehmens fragt, sollte daran denken, daß die Biographik, und nicht nur sie, an einer Heldengalerie der Menschheit arbeitet, die um so wichtiger wird, je mehr uns die Götter und Teufel abhanden gekommen sind. Das gilt auch dann, wenn ein Biograph, wie es demokratischen, aufgeklärten Zeiten gebührt, die Heroisierung zu vermeiden sucht. Es dürfte heute wenige Menschen der Vergangenheit geben, die in dieser Art eine so große, internationale Gemeinde (und so erbitterte Feinde) haben wie der Begründer der Psychoanalyse – einer Theorie und therapeutischen Praxis, deren Verheißung psychischer Gesundheit an die Stelle früherer Heilserwartungen getreten ist. Für diese Gemeinde hat Molnar sein liebevolles und sachkundiges Buch gemacht.

Sigmund Freud: „Tagebuch 1929–1939“. Hg. Michael Molnar. Stroemfeld Verlag, ca. 300 Seiten, zahlreiche Abb., geb., 98 DM