Denunzianten sei Dank

■ Peter Sprengels Buch über jüdische Schauspieltruppen in Berlin 1900-1918

Bis zum Ende der letzten Spielzeit wurden im ehemaligen Handwerkervereinshaus in der Sophienstraße die Bühnenbilder für das Maxim-Gorki-Theater gezimmert. An der prächtig mit Terrakotten verzierten Einfahrt zu den inzwischen geräumten Werkstätten erinnert eine Bronzeplatte an die Geschichte des Hauses: in den ehemaligen Sophiensälen fanden wichtige Versammlungen der Arbeiterbewegung statt, 1928 wurde der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gegründet, und in der Nazizeit befand sich hier ein Zwangsarbeiterlager.

Die noch zu DDR-Zeiten installierte Gedenktafel verschweigt, daß auch der NS-Gauleiter und spätere Propagandaminister Joseph Goebbels hier sprach. Gänzlich unbekannt war bisher, daß das Haus bereits vor dem Ersten Weltkrieg von jüdischen Theatergruppen bespielt wurde.

Aus alten Zeitungsberichten wußte man bereits, daß den jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa, die sich seit etwa 1880 im alten Scheunenviertel niederließen, wandernde Artisten und Theaterleute folgten. Bis zur Ausrottung durch die Nazis gab es im Viertel neben orthodoxen Bethäusern, hebräischen Buchhandlungen und koscheren Lebensmittelläden auch Theater und Varietés.

Auf der Suche nach Spuren dieser Theaterszene wurde der Berliner Germanist Peter Sprengel im Brandenburgischen Landeshauptarchiv fündig. Dort lagern Akten der kaiserlichen Theaterpolizei, die bis 1918 für Genehmigung und Zensur öffentlicher Aufführungen zuständig war. Im Berliner Landesarchiv entdeckte Sprengel außerdem eine stattliche Anzahl verschollen geglaubter Stücke.

In den Pausen gab es koschere Würstchen

Ein Glück, daß auch damals schon Neid und Zwietracht unter den Theaterleuten an der Tagesordnung waren. Der Intriganz des jüdischen Theaterunternehmers Löwenthal aus der Grenadierstraße ist es zu verdanken, daß das Plakat der Vorstellung erhalten blieb, die am 2. Januar 1910 in den Sophiensälen stattfand. Eine von dem Prinzipal Chaim Guttentag geleitete Truppe zeigte „Chaim in Amerika“, in der Pause wurden koschere Würstchen „unter Aufsicht des Adas Israel“ verkauft.

Das Plakat gelangte in die Akten der Theaterpolizei zusammen mit einem Denunziationsschreiben, worin Löwenthal in mangelhaftem Deutsch auf die fehlende Konzession seines Konkurrenten Guttentag hinwies. Eine Erlaubnis zu öffentlichen Aufführungen einzuholen war zwar Pflicht, aber für ostjüdische Theatertruppen blieb sie praktisch unerreichbar.

Sie waren darauf angewiesen, mit konzessionierten Theaterunternehmern zusammenzuarbeiten. Gegen Gewinnbeteiligung gaben diese die jiddischen Gastspiele als Eigenproduktionen aus. Entstand jedoch bei der Theaterpolizei der Eindruck, sie behandelten die jüdischen Schauspieler als relativ selbständige Subunternehmer, drohte ihnen Konzessionsentzug.

Peter Sprengel geht solchen Zusammenhängen mit kriminalistischer Leidenschaft nach. Die Schwierigkeiten, unter denen die Zuwanderer im Scheunenviertel ihr eigenes Kulturleben organisierten, sind noch nie so präzise beschrieben worden. Die abgedruckten Plakate, Fotos, Stücktexte und Zeitungsberichte erlauben zudem, sich ein ungewöhnlich farbiges Bild von der damaligen Aufführungspraxis zu machen.

Weniger glücklich ist der Titel „Scheunenviertel-Theater“. Sprengel begründet seine Wortschöpfung mit dem „Ghetto-Charakter einer Theaterform, die sich ausschließlich an eine diskriminierte Minderheit wendet und für ihre Verbreitung auf die Kommunikationsform des Ghettos angewiesen ist“.

Doch das Scheunenviertel war kein Reservat für eine ethnische Minderheit, es handelte sich lediglich um wenige Straßenzüge mit einem hohen Anteil ostjüdischer Bewohner. Diese bildeten keineswegs eine ethnisch homogene Gruppe, sondern redeten je nach Herkunftsland in unterschiedlichen Sprachen. Manche assimilierten sich, andere zogen weiter nach Amerika oder Palästina. Viele wurden abgeschoben, weil die deutschen Behörden eine Ghettobildung verhindern wollten.

Unreflektiert knüpft Sprengel mit seinem reißerischen Buchtitel an den Mythos vom Scheunenviertel als jüdischem Schtetl in der Metropole an, der die soziale Realität des einstigen Viertels verfehlt und verfälscht. Er deckt damit wieder zu, was er in wissenschaftlicher Fleißarbeit aufgedeckt hat: die vielschichtigen und komplizierten Beziehungen, die die Ostjuden über die Grenzen des angeblichen Ghettos hinaus unterhielten.

Talentschmiede ostjüdisches „Off“

Die meisten Spielstätten für jüdisches Theater lagen zwar in Reichweite, aber doch außerhalb des Scheunenviertels. Vermutlich kamen auch viele Zuschauer aus anderen Teilen der Stadt. Wie die Ostjuden waren ja auch die sogenannten Westjuden, deren Familien in Berlin Wurzeln geschlagen hatten, keine homogene Gruppe, die sich konsequent gegen die armen Brüder aus dem Osten abgeschottet hätte. So war es möglich, daß ein Talent wie der Schauspieler Alexander Granach in einem ostjüdischen Off-Theater entdeckt wurde und später bei Max Reinhardt und Erwin Piscator Karriere machte.

Und es gab Intellektuelle wie Franz Kafka, der die Begegnung mit dem jiddischen Theater suchte, weil er sich davon Aufklärung über sein eigenes Judentum versprach. In den Briefen an Felice Bauer ermuntert er seine in Prenzlauer Berg wohnende Verlobte, jiddische Stücke zu besuchen. Kafka war mit dem Schauspieler Jizchak Löwy befreundet, der im Etablissement des Denunzianten Löwenthal auf der Bühne stand und sich seinerseits bei der Theaterpolizei über die schlechte Behandlung durch den Theaterunternehmer beschwerte.

Ausgehend von dieser biographischen Konstellation, kann Sprengel nachweisen, daß Kafkas Beschäftigung mit dem ostjüdischen Theater Erzählungen wie „Das Urteil“ oder „Die Verwandlung“ beeinflußt hat.

Sprengels Buch steckt also voller spannender Entdeckungen. Die Berliner Theatergeschichte wird deswegen sowenig umgeschrieben werden müssen wie die Geschichte des jiddischen Theaters. Denn eine eigenständige Entwicklung dieser Theaterform in Berlin haben die Bürokraten der Theaterpolizei erfolgreich verhindert. Keine ostjüdische Schauspieltruppe konnte hier dauerhaft Fuß fassen. Für die jüdischen Theaterleute blieb Berlin lediglich eine ungemütliche Zwischenstation irgendwo zwischen Odessa und New York. Michael Bienert

Peter Sprengel (Hg.): „Scheunenviertel-Theater. Jiddische Schauspielergruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900–1918)“, Fannei & Walz, 320 S., 38 DM