Elche und Wasserhähne

■ Dr. Kuttners gesammelter Sprechfunk jetzt gedruckt und dabei auch flurbereinigt

Kult wird knapp. Die Popularisierung der geheimen Freizeitriten ehemals kleiner Volksgruppen wird von deren Kultfiguren eilig vorangetrieben.

ORB-„Frühstücksdirektor“ Lutz Bertram veröffentlichte ausgewählte „Auftakt“-Gespräche, bevor er im Januar 1995 durch das Herumeiern um seine Stasi-Verflechtungen in Ungnade fiel. Friedrich Küppersbusch, Politkommentator mit „Zack“, gibt zur Frankfurter Buchmesse für die, die sie beim ersten Mal nicht verstanden haben, seine gesammelten Moderationen in Buchform heraus. Ulrich Wickert winkt mit Tugenden in Buchform, und auch der „Sprechfunker“ und ORB-Talker Jürgen Kuttner will nicht nur gehört und gesehen, sondern auch gelesen werden. Ruhm strebt nach Expansion. Auch die berühmte „Radio Show“ der Marx Brothers kann man bekanntlich nachlesen.

Dr. Jürgen Sven Rolf Ernst Maxim Kuttner ist seit 1992 (zuerst bei „Rockradio B“, jetzt bei „Fritz!“) mit dem „Sprechfunk“, einer Radiotalkshow, auf Sendung. Das übergreifende Motto allen „Sprechfunks“ könnte lauten: „Ach, Idioten dieser Welt, ruft doch an.“ Die Hörer dürfen sich, so sie Kuttners Eloquenz gewachsen sind, ihrer Ansichten zu jeweils einem Thema entledigen. Dabei kann das Leben der Elche zur Sprache kommen, der 7. Oktober, Wasserhähne oder einfach das schönste Ferienerlebnis.

Im November 1993 hielt Jürgen Kuttner, übrigens Kulturwissenschaftler mit echtem Doktorhut, auch Einzug ins ORB-Fernsehen. Dort erscheint er seinen Anhängern derzeit jeden Freitag um Mitternacht. Als Kuttner sich im Januar 1995 selbst als Ex-Stasi-Mitarbeiter outete, wurde das von der Hörerschaft wegen minder relevanter Aktenlage und unverbogener Offenheit des Moderators vollständig verziehen.

Im Falle Kuttner hatte der Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf die Idee zu einem „Großen Sprechfunk-Lesebuch“. Herausgeber Jörg Köhler war früher bei die andere, der Zeitung der DDR-Bürgerrechtsbewegung, beschäftigt und ebenfalls durch Stasi- Geschichten unschön ins Gerede gekommen. Das Buch machte Kuttner wenig Arbeit. Köhler tippte die Bänder aus dem ORB- Archiv ab, wählte aus, was er für Höhepunkte der Sendungen hielt und rahmte das Ganze mit einer Gebrauchsanweisung und einem Kuttner-Interview ein.

Genau jene Gebrauchsanweisung ist nun gleich das erste Ärgernis, denn sie kopiert Kuttners berlinische Schnoddrigkeit und kringelige Denk- und Sprechweise, ohne sie nur annähernd zu erreichen oder wenigstens zu parodieren. Die abgedruckten Gespräche hingegen wurden von etlichen Besonderheiten der Kuttnerschen Sprache gereinigt. Das mag bei einem bundesweit erscheinenden Buch halbwegs nachvollziehbar sein, soweit es sich um berlinische Dialektausdrücke handelt, wird aber im Detail schnell zum zweiten Ärgernis, wenn etwa selbst Kuttners „eieiei“ aus vorauseilendem Normalisierungsbedürfnis durch „Hut ab“ ersetzt wurde — grausig.

Überhaupt: Gerade „das Bekenntnis zur Region“ und der Umstand, daß Kuttner auch sprachlich „keine Lackbilder herstellt“, keine „Gußform“ ist, sondern einen Typen darstellt, „der quatscht (so), wie auch überall anders gequatscht wird“, ließ ihn ja zu so etwas wie einem „Störfaktor im Radio“ werden. „Von längst liebgewonnenen Lesegewohnheiten“, wie der Verlag warnt, muß man sich jedenfalls nicht lösen.

In den hier auszugsweise versammelten Gesprächen ging immerhin nicht verloren, wie Kuttner „vielfältig als Problemlöser unterwegs ist“ und dabei unermüdlich den „erzieherischen und kulturellen Wert“ seiner Mission beschwört. Kuttners Blick in deutsche Wohnzimmer zeitigt mitunter psychoanalytisch korrekte und makabre Ergebnisse.

Thema „Spaß“: Nachdem er von seiner Freundin verlassen wurde, sammelt ein Anrufer allen Ernstes Gottesanbeterinnen, denn „die sind einfach unkomplizierter, die Gottesanbeterinnen. Mit Frauen hab ich einfach kein Glück“. Wo hört man sonst noch so Abseitiges, aber auch Banales auf dem Plappergleis? Aber nicht das ist das Besondere am „Sprechfunk“, sondern, so Dr. Kuttner selbst, die vollständige, aber nie vernichtende Verunsicherung der Anrufer durch den Moderator.

Man sollte nicht einmal wagen, „Hans Meiser“, „Ilona Christen“, „Bärbel Schäfer“ zu assoziieren. Die sind unbedingt „Gußfiguren“. Kuttner hingegen ist ganz lautere Handarbeit — ein Nußknacker, wenn man schon ein Bild braucht. Diesen Ruf kann auch das allzu sorgsam redigierte „Große Sprechfunk-Lesebuch“ nicht beeinträchtigen. Es ist ja für Fans gemacht, und die sind bekanntlich ein bißchen blind. Anke Westphal

Jürgen Kuttner: „Das große Sprechfunk-Lesebuch“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 316 Seiten, 24,80 DM