Estland ohne Regierung

■ Eine Abhöraffäre löst Rücktritte aus. Innenminister belauschte Politiker

Tallinn (taz/AFP) – Der estnische Ministerpräsident Tiit Vähi hat gestern bei Präsident Lennart Meri seinen Rücktritt eingereicht. Der Verfassung zufolge zieht dies die Demission der gesamten Regierung nach sich. Auslöser der Krise war eine Abhöraffäre, in die Innenminister Edgar Savissar verwickelt ist. Dieser hatte bereits zuvor seinen Hut genommen, nachdem bekanntgeworden war, daß er über zahlreiche Tonbänder mit Regierungsinterna verfügte. Das Tonmaterial hatte die estnische Sicherheitspolizei vor wenigen Tagen bei einer Hausdurchsuchung eines seiner engsten Berater gefunden. Dieser ist zugleich Vizepolizeichef von Tallinn.

Zu den brisantesten Dokumenten gehören Mitschnitte von Koalitionsgesprächen zwischen Savissar, Vähi und dem Führer der oppositionellen Reformpartei, Slim Kallas, nach den Reichstagswahlen im vergangenen März. Unklar ist, ob eine der vielen noch vorhandenen exsowjetischen Abhöreinrichtungen benutzt wurde oder ob Savissar das Band selbst mitlaufen ließ. Beobachter zweifeln aber nicht daran, daß die Telefongespräche im Auftrag von Savissar abgehört wurden, der auf diese Weise bei den Koalitionsverhandlungen einen Informationsvorsprung gewann. Für die Bänder hatte der Innenminister jedenfalls keine schlüssige Erklärung, was ausreichte, um ihn unglaubwürdig zu machen.

Dabei hatte Savissar nach den Wahlen der organisierten Kriminalität den Kampf angesagt. So wurden in den letzten Monaten tatsächlich mehrere führende Mafiamitglieder verhaftet. Ein Musterprozeß gegen die organisierte Kriminalität wurde eröffnet.

Staatspräsident Meri sieht in der Affäre eine „Krise für die gesamte Demokratie des Landes“, während Premierminister Tiit Vähi zunächst lieber tiefstapelte: „Das ist eine Krise bestimmter Politiker, aber nicht des Staates.“ Da Savissar, dessen Zentrumspartei bei den Wahlen vom März drittstärkste Kraft geworden war, zunehmend als der starke Mann der Regierung gilt, dürfte die ganze Affäre nun nach dem Rücktritt Vähis schnell zu einer Staatskrise führen. Die Zentrumspartei hatte bereits am Montag damit gedroht, die Koalitionsregierung zu verlassen, falls Regierungschef Vähi ihren Vorsitzenden als Innenminister fallenlassen sollte. rw