„Sind wir Juden zweiter Klasse?“

Der Bundestag debattiert heute über die niemals „entschädigten“ NS-Opfer in den baltischen Republiken. 40 Abgeordnete fordern fraktionsübergreifend wenigstens individuelle Hilfen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Humanitäre Geste für die Opfer des NS-Unrechts in den baltischen Staaten“ heißt der Antrag, den 40 Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/ Die Grünen heute abend ins Parlament einbringen. Es ist nicht der erste Versuch, für diese vergessenen Opfer in Estland, Lettland und Litauen wenigstens ein bißchen individuelle materielle Hilfe zu erreichen, die ihnen die Bundesregierung bis heute verwehrt. Dieser fraktionsübergreifende Gruppenantrag stand schon einmal auf der Tagesordnung, passenderweise am 9. Mai, und wurde – man mag es kaum glauben – wegen der Kriegsende-Gedenkreden auf Oktober verschoben.

Für die Aussprache ist genau 35 Minuten Zeit, das ist ein Debattenkontingent von einer Zehntelminute für jeden heute noch im Baltikum lebenden ehemaligen jüdischen Ghetto- und Konzentrationslagerhäftling. Von den über 300.000 Juden die vor 1941 um Wilna, Riga oder Tallinn wohnten, sind heute 352 übriggeblieben. Alle sind sie arm, viele krank, jeden Monat müssen die Vorsitzenden der baltischen Ghettovereinigungen das Wort „verstorben“ hinter die Namen ihrer Mitgliederlisten setzen.

Die Bonner Regierung setze auf die „biologische Lösung“, vermutet Alexander Bergmann, Sprecher der lettischen Juden deshalb bitter. Und er kann nicht verstehen, warum die Bundesregierung 1993 eine Ein-Milliarden-Stiftung für die individuelle Entschädigung der NS-Opfer in Rußland, der Ukraine und Belarus beschloß, eine gleichermaßen zu organisierende individuelle humanitäre Hilfe aber für die baltischen Juden ablehnt. „Sind wir Juden zweiter Klasse?“ fragt er und fügt hinzu: „Wir fordern nicht, wir bitten um eine Hilfe, damit wir, deren Jugend gestohlen wurde, wenigstens den Lebensabend in Würde verbringen können.“ Und zwar nicht in kasernierten Altersheimen, sondern dort, wo die Betreffenden es wünschen.

Genau dies wollen auch die Initiatoren des Antrags – Winfried Nachtwei (Grüne), Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU) und Gert Weisskirchen (SPD) – so schnell wie möglich sicherstellen. Sie fordern einen noch nicht definierten Betrag, den gemeinnützige Einrichtungen in Absprache mit den Ghettoverbänden ausgeben können. Die Antworten, die sie bisher in ihren vielen Gesprächen vom Außenminister Klaus Kinkel hörten, etwa „wir wollen kein Faß aufmachen“, das heißt mit individuellen Hilfsleistungen einen Präzedenzfall für die ebenfalls niemals entschädigten tschechischen und slowakischen Juden schaffen, leuchten ihnen nicht ein.

Sie insistieren auf die Verwirklichung eines einstimmig gefaßten Beschlusses des Bundestags vom 29. Juni 1994. Begrüßt wurde damals, daß die Bundesregierung sich bereit erklärte, den drei baltischen Staaten je zwei Millionen Mark als „humanitäre Geste“ anzubieten. Das Geld sollten die Regierungen in eigener Verantwortung für Altersheime und Krankenhäuser ausgeben. Darüber hinaus aber – und um dessen Realisierung geht es jetzt – forderte damals der Bundestag die Regierung auf, „bei weiteren Verhandlungen darauf hinzuwirken, daß diese Lösung den individuellen Bedürfnissen der Opfer ... nahekommt“.

Jetzt, so fordern die 40 Abgeordneten, sei es allerhöchste Zeit, diesen Zusatzbeschluß in Absprache mit den Opferverbänden endlich umzusetzen, zumal bisher nur Estland diese zwei Millionen angenommen hat.

Litauen fordert nach wie vor eine gesamtbaltische Stiftung mit 50 Millionen Mark, und in Lettland kamen die Verhandlungen nicht vom Fleck, weil das Wohlfahrtsministerium die „humanitären Investitionen“ auch ehemaligen lettischen Waffen-SSlern zugute kommen lassen wollte.

Nachdem die rechtsextreme Partei „Pro Lettland“ mit ihrem in Deutschland wegen „Volksverhetzung“ verurteilten Chef Joachim Siegerist zweiter Wahlsieger geworden ist, stehen die Chancen, daß NS-Opfer bevorzugt berücksichtig werden, schlechter denn je. Zumal schon im Sommer das Sozialministerium sich weigerte, das Jüdische Krankenhaus in Riga in die Liste der Anspruchsberechtigten aufzunehmen, weil es angeblich schon „anderweitig“ unterstützt werde.

Daß die „humanitären Investitionen“, selbst wenn die Gelder irgendwann nach Litauen und Lettland fließen sollten, jüdischen Opfern allenfalls zufällig zugute kommen, beweist der Fall Estland. Laut dem Baltic Independent und dem „American Jewish Committee“ wird in den von Deutschland unterstützten 32 Altersheimen allen Verhandlungen zum Trotz nicht gefragt, ob ein Bewerber verfolgt war oder nicht. Weder die deutsche noch die estnische Regierung nahmen ein einziges Mal Kontakt mit der kleinen jüdischen Gemeinde auf, obwohl die Namensliste Kinkel vorliegt. Die Altersheime seien für alle Bürgerinnen und Bürger da, erklärte dazu der estnische Botschafter Ende September in Bonn, „Entschädigung sei etwas anderes“.