Gesamtdeutsches Dallas

■ Ungute City-Gefühle und konkrete Mieterverdrängung dominieren die Debatte: Eine Publikation zur Berliner Stadtentwicklung sucht verzweifelt nach der Mitte

Bücher über Städtebau und Stadtentwicklung sind selten Pop. Und wenn, dann als Bildbände über Wiener Jugendstilfassaden oder irre Hochhausschluchten in New York und Chicago. In Berlin ist das anders. Taxifahrer und Boulevardblätter reden davon, Touristen lassen sich von kundigen Scouts über Leerstände informieren und staunen, wieviel „1-A- Büroraum in Toplage“ trotzdem gebaut wird. Unter den Linden fragt die FDP in ihrem Wahlkampf-Showroom durch die breite Fensterfront: „Berlins neue Mitte – ein Alptraum?“ Auf allen Ebenen gibt es heftige Streitereien, wobei die Kampflinien zwischen ästhetischen Eitelkeiten und sozialen Auswirkungen fließend sind. Die zu erwartende staatstragende Fassadengestaltung am Pariser Platz etwa scheint ein mindestens so großes Ärgernis zu sein wie die drohende Cityausdehnung und Mieterverdrängung in der Spandauer Vorstadt.

Jetzt sind die ersten Renommierprojekte an der Friedrichstraße fertiggestellt. Statt rauschender Eröffnungen aber gibt es (meist überregionale) Presseverrisse und hämische TV-Features. Und auch „Berlin – Auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum“ empfiehlt dringend „eine Ernüchterungsplanung“ für alle weiteren Schritte. „Die bisherige Planung“, resümiert das Autorenteam unter Leitung des TU-Professors Harald Bodenschatz, „droht ein kopflastiges Zentrum zu fördern, wie es Berlin noch nie gekannt hat, ein Übermaß an Geschoßflächen, das der Stadt schadet, ob diese nun in erheblichem Umfang leerstehen oder alle in Betrieb gehen“.

Mit der Lethargie am Immobilienmarkt haben auch andere Städte zu kämpfen. In der Berliner Diskussion jedoch löst die gegenwärtige Baisse sofort Wahnvorstellungen und Existenzneurosen aus. „Über alle politischen und gesellschaftlichen Brüche hinweg“, so die Autoren, „blieb lediglich das herrschende städtische Bewußtsein stabil, in einer Stadt zu wirken, die nicht auf der Höhe der Zeit ist, die erst auf diese Höhe gebracht werden muß – ohne große Rücksicht auf das Überkommene, das ja nur Rückständigkeit verkörperte.“ Dieser „Mangel an Selbstbewußtsein“ bestimmt die „Epoche“ nach 1989. Durch die mediale Fokussierung auf die Hauptstadt scheint Städtebau mit all seinen Höhen und – vor allem – Tiefen nur noch in Berlin stattzufinden. War die behutsame Stadterneuerung rund um die Internationale Bau-Ausstellung (IBA) in West-Berlin eher ein Musterbeispiel für Fachwelt und AnwohnerInnen, gerät der neuentdeckte Gründerzeitenwahn zum gesamtdeutschen Dallas.

Momentan haben die besonnenen Charaktere ihren Auftritt. Zur Reichstagsverhüllung im Juni waren zwar (ein letztes Mal?) die himmelstürmenden Stadtansichten fürs Jahr 2005 zu besichtigen, die der Hamburger Stern aufgebaut hatte. Doch vier Monate später thematisiert die ortsansässige Architektenkammer den „Abschied vom Wolkenkuckucksheim“. Dabei hatte das Stadtplanertrio um Bodenschatz keineswegs eine weitere Kampfschrift im Sinn gehabt. Es ging eher darum, die hektische, von Retroklischees beladene Debatte mit einer fundierten Gesamtbetrachtung zu entschärfen. Die vielzitierte „kritische Rekonstruktion“ hat für sie wenig mit den Monokel tragenden Graf-Bobby- Phantasien zu tun, wie sie rings ums wiederaufgebaute „Hotel Adlon“ spuken. Ihr Credo: „Ohne eine Rekonstruktion der Städtebaugeschichte, der Deutungsgeschichte und der Planungsgeschichte des Berliner Zentrums wird jeder Versuch, ein leistungsfähiges neues Zentrum aufzubauen, ein Lotteriespiel bleiben.“

Jahrhundertelange Westwanderung

Wenn sich die Untersuchung dabei hauptsächlich auf die alte, neue „Mitte“ nebst anliegender Viertel konzentriert, hat das genauso viel mit dem rasanten Veränderungsdruck unserer Tage wie mit dem stadtgeschichtlichen Erbe zu tun. Die über Jahrhunderte andauernde Westwanderung wird mit umfangreichen Karten- und Fotomaterial dokumentiert, wobei man über die Detailbetrachtungen der Viertel (Alt-, Friedrich- und Dorotheenstadt) stets zum Gesamtgefüge zurückfindet. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren dem „schwierigen“ Ostberliner Zentrum, das in vielen Köpfen offenbar als frei verfügbare Variable für allerlei Planspiele gesehen wird. „Die ersten Teilaufsätze des Buches sind bereits vor rund drei Jahren entstanden“, berichtet Koautor Hans Joachim Engstfeld. „Es dauerte jedoch seine Zeit, daraus eine umfassende Analyse für die gesamte mittlere Stadt zu erarbeiten. Die Investoren waren da natürlich schneller. Sie haben den historischen Kontext zwar für ihr Standortmarketing genutzt, doch als die Verträge unterschrieben waren, regierten Bagger und Rechenschieber.“ Das eigentlich Neue – und hier greift das „Geschichtsbuch“ in den Alltag ein – ist die erstmalige Umkehrung der historischen Entwicklung der Gesamtstadt in Richtung Osten. So massiv und schnell, daß die „einzigartige, funktionale Monotonie“ schon jetzt abzusehen ist.

Nun ist die sorgsame Untermauerung für ein rundherum spürbares, ungutes City-Gefühl eine, die daraus resultierende konkrete Einflußmöglichkeit eine andere Sache: „Mit so einer Arbeit läßt sich eher mittelfristig etwas erreichen. Der Kardinalfehler, die Umwidmung der klassischen Parzellen zu einheitlichen Blocks, ist weder am Potsdamer Platz noch in der Friedrichstraße rückgängig zu machen“, erzählt Hans Joachim Engstfeld. „Die Fachdiskussion und somit auch die entsprechenden Gremien der Verwaltung werden sich damit auseinandersetzen, was wiederum in die Rahmenbedingungen für zukünfige Investitionen einfließen kann. Wie man erkennt, ist das ein eher langsamer, evolutionärer Prozeß. Am Alexanderplatz beispielsweise werden nach wie vor die Kollhoffschen Hochhausvisionen weiterverfolgt. Nach ästhetischen Leitbildern, die für zwanzig Jahre gültig sein sollen, obwohl der jeweilige Zeitgeist heutzutage kaum ein Jahrzehnt übersteht. Ich hätte das nicht erwartet und bin gespannt, ob dieses Modell über den sogenannten B-Plan hinauskommt, steckenbleibt oder irgendwann gänzlich abgeblasen wird.“

Es ist nicht einfach zu verstehen, welche zentrifugalen Kräfte auf die Stadt einwirken. Da müssen Experten dringend einen „nüchternen Umgang“ mit Geschichte und Gegenwart anmahnen, wo ein simpler Spaziergang schon Erkenntnisse en masse liefert. Bereits hinterm Alex findet die Weltstadt nämlich in der Nische statt. Eine Metzgerei bietet die Bockwurst im Straßenverkauf für eine Mark an, und die Verkaufsstände ringsumher – Obst und Gemüse aus der Region, Billigtextilien und allerlei Firlefanz – danken der Berliner Bevölkerung auf handgemalten Pappschildern, daß sie sich für den (vorläufigen) Erhalt des kleinen Marktes eingesetzt hat. Das ist nicht sonderlich repräsentativ, aber zumindest ein angemessener Ausgangspunkt für den klangvoll beschworenen people's place.

Da findet in ganz Berlin ein Architektenaufmarsch sondersgleichen statt, der letztlich nur einmal mehr zeigt, daß Starbaumeister nichts anderes sind als willfährige Hofschranzen, die von irgendwelchen abstrakten Abschreibungsfonds geleitet werden. „Das Wissen um die Verhältnisse ist teilweise erschreckend“, berichtet Engstfeld. „Man kennt die großen Namen und den Mythos der Zwanziger: Mendelsohn, Taut, Gropius oder Martin Wagner. Darüber hinaus herrscht professionelle Ignoranz. Das vorgefaßte Projekt, daß aus Chicago oder sonstwo rübergefaxt wird, ist zum sprichwörtlichen Beispiel für das Scheitern an der Realität geworden.“ Ralf Niemczyk

Bodenschatz/ Engstfeld/ Seifert: „Berlin – Auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum“. 272 Seiten, Junius-Verlag, 68 DM