Berlin muß Konflikte bestehen, nicht glänzen

Im kapitalorientierten Wettrennen der Weltstädte steht die Existenz der Stadt selbst auf dem Spiel  ■ Von Wolfgang Kil

Gibt es in Berlin einen Konsens, eine mehrheitsfähige Vision von der Zukunft? Die Politiker können sich bislang immer nur nach der Weltmeisterlatte strecken: Die Größten, die Schnellsten, die Reichsten müssen wir sein. Aber was weiß man hier wirklich vom Charakter der Modernisierung, die der Stadt nach solchem Konkurrenzmodell bevorsteht – einer Modernisierung, die mangels politischer und sozialer Phantasie allein dem Selbstlauf der ökonomischen Mechanismen anheimgegeben wird?

Südostasien ist derzeit Schauplatz unvorstellbar gewalttätiger Verstädterungen; Landschaften werden umgekrempelt, Inseln aus dem Meer gestampft und Berge versetzt; nebenbei finden wahre Völkerwanderungen statt. Schon ein flüchtiger Blick auf diese wahren Boomregionen unserer Tage müßte eigentlich alle Berliner Ehrgeizträume schnell auf den Boden der Realitäten zurückholen.

Berlins Ausgangslage für das weltweite Wettrennen der Städte ist denkbar schlecht. Obendrein ist sie auch noch selbstverschuldet blockiert. Weil niemand den Mut aufbringt, von der Tragweite und den gewaltigen Risiken der dazu notwendigen Entscheidungen öffentlich zu reden. Alle wollen die Modernisierung zur Metropole, aber alle wollen sie kulturell domestiziert.

Die potentesten Weltunternehmen sollen zum Zuge kommen, doch zu den Bedingungen der gemütlichen Provinz. Allen Ernstes geben Volker Hassemer wie Hans Stimmann vor, „den Tiger reiten“ zu wollen: Vor dem ganz großen Einsatz, d.h. der ganz brutalen Deregulierung und restlosen Übergabe der Stadt an private Bauherren, drücken sie sich; aber von der Hoffnung auf den ganz großen Gewinn, auf die Weltstadt des dezenten Luxus und der feinen Manieren, können sie trotzdem nicht lassen.

Das wird wohl nichts. Was der Stadt jetzt als Entwicklungsschub anempfohlen wird, die Umwandlung des schrumpfenden Altindustrie-Standortes in eine Dienstleistungszitadelle, hat, so es denn überhaupt funktioniert, erhebliche soziale und kulturelle Konsequenzen.

Diese Modernisierung ist „mit menschlichem Antlitz“ schwerlich zu haben, da wird Stadtbildpflege zur Donquichotterie: mit einem Reglement der Traufhöhen und Steinfassaden gegen „architektonischen Wildwuchs“ ankämpfen, als wäre Berlin nur als historisches Postkartenpanorama gefährdet! Auf dem Spiel steht indessen, wie in allen „Wachstumsmetropolen“ weltweit, die Existenz von Stadt überhaupt.

Diese einschneidende Infragestellung entsteht weniger durch überstürzte oder verfehlte Planungen als vielmehr durch Anonymisierung der Auftraggeber sowie Reduzierung jeglicher Bauabsicht auf die immer kürzeren Zyklen der Amortisation. Die Errichtung von Häusern hat nichts mehr mit Städtebau zu tun, sondern dient nur noch zur Bewegung von Kapitalien. In Hongkong werden derzeit Wolkenkratzer mit einer Lebenserwartung von unter fünfzehn Jahren kalkuliert, weshalb sie in drei Jahren hochgezogen sein müssen; entsprechend schlicht in der Ausstattung wie albern im Design kommen sie daher.

Ex und hopp – so lautet die Perspektive der Investorenstadt, völlig unbeeindruckt von den Erwartungen und Bedürfnissen etwaiger Stadtbewohner und natürlich auch gänzlich unberührt von der gigantischen Ressourcenvernichtung, die ein solches Stadtmodell der permanenten Innovationsraserei per se bedeutet.

Um diese Hintergründe des sich abzeichnenden Wandels im Planen und Bauen haben sich die meisten Kontrahenten der „Berlinischen Architekturdebatte“ bislang wohlweislich herumgedrückt. Sie haben die Zeitgeist-Spielchen der achtziger Jahre gespielt, denen zufolge das Sein vom Design bestimmt werde. Doch die Mammutprojekte in der Friedrichstraße oder am Potsdamer Platz bringen die eigentlichen Konfliktlinien an den Tag.

Und die lauten nicht Stimmann versus Libeskind, nicht Stein- versus High-Tech-Fassaden, sondern die lauten Öffentlichkeit versus privatisierter Raum, Stadt als Grundstücksreservoir zur Renditesicherung versus Stadt als Lebensraum ihrer Bewohner. Kaum war dieser Konfliktverlauf ausgemacht, kam die Debatte zum Stillstand.

Denn ab hier geht es ans Eingemachte. Wer sich auf diesen Konfliktverlauf einläßt, der muß Partei ergreifen: Der muß sagen, wie er zum Fortschrittsmodell steht, das hier stillschweigend zugrunde liegt und das in seiner radikalen Marktförmigkeit ein Modell der Gewinner auf Kosten der Verlierer ist. Der muß laut erklären, daß er bereit ist, die Grundlagen der „europäischen Stadt“ zur Disposition zu stellen.

Die bei all ihrer Langsamkeit nur ein bißchen dissonante, nur in Maßen widersprüchliche „europäische Stadt“ ist ein wertvolles Erbe unserer Kultur, auch und gerade der politischen Kultur. Warum also werden Berlins Zukunftsvisionen immer nur als ästhetische Ereignisse beschworen – etwa als Schloßgespenster oder als Hochhauskaskaden am Alexanderplatz – und nie in Szenen eines wünschbaren Miteinanders im Alltag? Warum wird anstatt über berlinische Architektur z.B. nicht über Modelle berlinischer Bürgerschaft diskutiert?

Bis 1989 war der Westteil Berlins eine wohltemperierte Exklave im Windschatten des konjunkturellen Mainstreams – warum macht die Stadt aus dieser luxuriösen Vergangenheit nicht ihren Zukunftsbonus und leistet sich die kreative Freiheit, auch fürderhin über Alternativen zum Wachstumsmodell nachzudenken?

In München ist Anfang der siebziger Jahre schon über „Nullwachstum als Entwicklungsziel“ diskutiert worden, und vor zehn Jahren (!) erschien in der Zeit von Häußermann und Siebel eine Grundsatzpolemik über „Die Chancen des Schrumpfens“, die bis heute nichts an Brisanz und Gültigkeit verloren hat.

Hinter den zu IBA-Zeiten entwickelten Strategien der behutsamen Stadterneuerung warten weitere zukunftsfähige Theorien (z.B. Sustainable Development/nachhaltiges Planen) auf ihre praktische Erprobung. Doch der Zeitgeist berauscht sich unverdrossen an Modethemen wie Chaos und Dekonstruktion, und in krankhafter Bildersucht wird Schinkels Bauakademie wiederaufgebaut, auch wenn keiner weiß, zu welchem praktischen Zweck. Dieser Snobismus wird sich rächen. Im Zweifelsfall siegen stets die Interessen über die Idee. Und dies erst recht, solange Berlin noch nicht einmal eine Idee für sich gefunden hat.

Nicht nur bei der Auf- und Umrüstung der Innenstadt zur Business-Zitadelle zeigt sich der fatale Hang der Berliner Stadtentwicklungspolitik zu „altem Denken“. Auch die vom Senat stolz präsentierten Konzepte für den extensiven Wohnungsbau – konkret: die „Neuen Vorstädte“ wie Karow- Nord oder Gartenstadt Falkenberg – sind eher von naiver Nostalgie denn von nüchterner Voraussicht inspiriert. Einerseits sind jene Planungen ökonomisch auf Gedeih und Verderb an ein relativ großzügiges Sozialbau-Fördersystem gekoppelt, das aus „besseren Tagen“ stammt und schon jetzt von massiver Finanznot bedroht ist – was aber soll werden, wenn die Pleite wirklich kommt? Zum anderen beziehen sich jene „Vorstädte“ als Behausungsform und Stadttypologie ausdrücklich auf historische Vorläufer wie etwa Lichterfelde oder Friedenau, also auf gründerzeitliche Villenkolonien und einstige Vorortsiedlungen der „Bessergestellten“. Heute nennt man das „Mittelstand“, und eben der gilt als Generaladressat derzeitiger Berliner Wohnungsbaupolitik.

Nicht erst seit gestern reden Soziologen und Wohnforscher (z.B. Ulrich Pfeiffer als Berater im Stadtforum) gegen diese stupide Verlängerung altbundesrepublikanischer Denktraditionen an. Der Rückgang an einheimischer Bevölkerung ist in Berlin bereits eine rechnerische Größe. Neuere Prognosen rechnen mit einer unvermeidbaren, ja notwendigen Immigration, vornehmlich aus den osteuropäischen Nachbarregionen. Deren Ausmaß wird bislang eher unter- als überschätzt. Berlins europäische Drehscheibenfunktion wird sich weniger auf der Königsebene von Kulturfestivals und Partnerschaftsverträgen als vielmehr in einem konfliktreichen Assimilations- und Integrationsprozeß von Zuwanderern zu bewähren haben. Zieht man zudem das noch völlig unübersichtliche Sozialgefüge einer Krisengesellschaft „nach dem Verschwinden der Arbeit“ in Betracht, dann wird die strategische Fehlorientierung auf eine heile Mittelstandswelt in jenen „Neuen Vorstädten“ geradezu schmerzhaft deutlich.

Nun hat aber Berlin durchaus Erfahrungen als Einwandererstadt. Gerade die jetzt so häufig zum Vergleich berufene Gründerzeit war ja vor allem wohnungspolitische Folge einer bis dato beispiellosen Zuzugswelle. Es lassen sich durchaus erfolgreiche Auffangstrategien entdecken, die auch für heutige Überlegungen von Nutzen sein könnten. Die Rede ist von der Mietskasernenstadt.

Gründerzeit-Kieze, vor allem in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg, sind seit einigen Jahren zu Wunschkulissen einer „Urbanität des easy living“ geworden. Doch ihr tatsächlicher Wert muß an einem ganz anderen, eher konfliktbezogenen Begriff von „Urbanität“ gemessen werden: Es sind Orte von außerordentlicher Stabilität der sozialen Balance, des Ausgleichs und der (verhältnismäßig) freundlichen Symbiosen. Alle existentiellen Erschütterungen des zurückliegenden Jahrhunderts haben sie immer wieder überlebt. An Strapazierfähigkeit sind sie den übrigen Stadtvierteln haushoch überlegen.

Spätestens seit Werner Hegemanns Streitschrift „Das Steinerne Berlin“ (1930) galt das vernichtende Urteil über die Mietskasernen, diese „architektonischen Auswüchse hemmungsloser Bauspekulation“ als unwiderruflich gesprochen. Doch man sollte, hinter aller berechtigten Kritik, nicht die spezifische soziale Mechanik jenes gründerzeitlichen Stadtwachstums aus dem Auge verlieren. Hunderttausende verließen damals ihre zumeist ländliche Heimat und versuchten, in der anonymisierenden Konkurrenzgesellschaft der Großstadt Fuß zu fassen. Hatten einzelne den schwierigen Sprung erst einmal geschafft, konnten sie Angehörige und Freunde nachholen. Diese schrittweise Einwanderung, das klassische Migrationsmuster der industriellen Revolution, fand in den Mietskasernenvierteln das geeignete „Auffangmilieu“ vor: Hier war, von der Schlafburschenstelle über Kleinstwohnungen für arme Familien bis zur komfortablen Vorderhausetage, für jeden Geldbeutel etwas im Angebot. Die Wohnungsmischung der klassischen Mietskaserne entsprach exakt dem sozialen Querschnitt der damaligen Gesamtbevölkerung. Ihr Ziel war nicht die Herstellung von Gleichheit (wie bei den späteren Reformsiedlungen oder beim Sozialwohnungsbau bis in heutige Tage), sondern eine, sogar ziemlich krasse, Differenzierung der Wohnstandards nach den realen Einkommensverhältnissen ..., und zwar unter ein und demselben Dach!

Man kann also auch sagen, jedes einzelne Haus bildete an sich selber die ersehnten Aufstiegsmöglichkeiten für die Neuankömmmlinge ab. Hinzu kamen billige Läden und Lokale, in Höfen und Souterrains schufen Handwerksbetriebe und andere Kleinunternehmen ein breites, flexibles Beschäftigungsfeld. So entstand ein universeller „Wechselrahmen“ für die soziale Mobilität, die der Einbürgerungsprozeß jedem einzelnen Neu-Städter abverlangte. In viele soziale Stufen ausdifferenziert, aber nie separiert, sondern nach „oben“ wie nach „unten“ stets durchsichtig: Vergleichbare Qualitäten einer funktionierenden Toleranz- und Eingliederungszone hat keine der nachfolgenden Bauperioden je wieder erreicht. Weder das Märkische Viertel noch Marzahn, auch nicht Bruno Tauts vielgerühmte Siedlungen werden so genial gebrauchsfähig über die Zeiten kommen.

Berlin wäre gut beraten, seine gründerzeitlichen Mischgebiete vor einer Übernahme durch die Lifestyle-Society möglichst zu bewahren. In ihrer sozialen Ausgleichsfähigkeit sind sie kaum zu ersetzen. Es ist auch an der Zeit, sie als Leitbilder städtischer Vielfalt und Konfliktfähigkeit wieder zu rehabilitieren, denn Experimente mit integrierenden (statt segregierenden) Wohntypologien sind längst überfällig. „Arbeitsplätze nahe beim Wohnen“ reichen nicht, gebraucht werden direkte Mischformen in jeglicher Hinsicht – eigentumsrechtlich, finanzierungstechnisch, architektonisch-funktionell. Weiterhin müssen innerhalb unserer nach wie vor wohlstandsfixierten Wohnbaudebatten endlich Angebote bescheideneren Standards zur Sprache kommen. Damit würde soziale Stabilität nicht ausschließlich bei den „Besserverdienenden“ gesucht, und es gäbe ein Recht auf Stadt auch für Benachteiligte und Verlierer.

Die zu erwartenden Wanderungsbewegungen werden auf Dauer Gesicht und Lebensart der aufstrebenden Metropole nachhaltiger verändern, als es die ehrgeizigsten Bauprojekte in der City jemals vermögen. Diese Neubürger zu integrieren und ihnen ein selbstverdientes Auskommen zu ermöglichen, wird die eigentliche Herausforderung Berlins in den kommenden Jahrzehnten sein. Zwar mag es der Traum vom Kurfürstendamm sein, mit dem die Wanderer sich auf den Weg machen, doch am Ziel ihrer Reise sind sie auf bezahlbare Wohnungen, billige Läden und vielerlei Gelegenheitsjobs angewiesen.

Mit City-Apartments, Stadtvillen und Reihenhausidylle im Grünen ist ihnen nicht gedient. Mehr denn je wird die Menschenfreundlichkeit der Stadt von den eher anarchischen, aber strapazierfähigen Toleranzvierteln abhängen, die schon immer als Durchgangs- und Aufstiegsmilieu funktionierten.

Wolfgang Kil ist freier Journalist und Architekturkritiker