Eine Menge echter Hybriden

Das Haus für eine Familie: Der Wildwuchs der neunziger Jahre. Zwei neue Bücher mit 58 Beispielen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Das Einfamilienhaus ist der fortgesetzte Testfall der Architektur. Einerseits, weil es leichter ist, einen Bauherrn (meistens sind es zwei) von der Idee zu überzeugen als zum Beispiel ein Gremium, einen Vorstand oder eine Behörde. Andererseits, weil die Parameter der Nutzung nur bedingt veränderlich sind. Im Einfamilienhaus wohnt eben eine Familie.

Wenn man einen Klassiker nachmacht, ist er keiner mehr. Das ist in allen Branchen bekannt, in denen Ideen das wichtigste Kriterium für Qualität sind. Deshalb sind die Klassiker der Moderne so geliebt und so verhaßt: Sie haben das Kriterium des gänzlich Neuen etabliert und gleichzeitig die Grundlösungen besetzt. Mit dieser Konstellation kämpft auch der Architekturautor John Welsh. Sein neues Buch mit 29 Beispielen von Einfamilienhäusern aus den letzten Jahren und aus aller Welt hat er ausgerechnet „The Modern House“ genannt. Das aber war der Titel eines Kompendiums von R.S. Yorke aus den dreißiger Jahren. Das Buch hatte die längst etablierte moderne Architektur Europas nach England gebracht, das seinerseits noch schlief.

Das Titelplagiat wirkt erst richtig seltsam, wenn man die Häuser sieht. Zumeist handelt es sich um typische Fälle neuer Unübersichtlichkeit. Die nostalgische Komponente der Postmoderne – diese eigenartige Fixierung auf zugleich liebliche und bizarre Giebel – ist in den sämtlich realisierten Entwürfen nur noch in Ausläufern sichtbar. Aber dekonstruktive Tendenzen haben sich durchgesetzt: das Jonglieren mit Quer- und Längsachsen, vertrackte Manipulationen an Fläche und Volumen, ein rigider Verschnitt von Materialien. Nur wenige Beispiele folgen dem Modell der Schachtel: vier Wände und ein Dach. Eine Folge von Ansichten eines einzigen Hauses wirkt so, als zeige es Fassaden von mindestens drei Gebäuden. Es ist eine mühevolle Arbeit, anhand der eingeschobenen kleinen Zeichnungen das Volumen des Ganzen so zusammenzusetzen, daß man es sich auch nur halbwegs vorstellen kann. Die Agglomeration ist selbstverständlich genau das, worin die Architekten ihre Meisterschaft unter Beweis stellen wollen.

Wohnzimmer voll schwebender Hölzer

Das Haus Chmar, eine Art L-förmiger Pfahlbau auf einem Waldgrundstück in Atlanta, Georgia: von Süden ein Schiff, von Osten ein Gemeindezentrum – und das Wohnzimmer, mit Massen von locker schwebenden Holzflächen und komplett offenen Fassaden zu beiden Seiten, eine finnische Luxusidylle. Das Haus ist schon etwas wunderlich. Es ziseliert die großen Fensterflächen und protzt nirgendwo mit der Massivität einer Wand; es hat Passagen mit kleineren Fenstern, die aber nicht wie Luken wirken.

John Welsh über das Haus Chmar: „Die Bauten von Scogin, Elam & Bray lassen sich als eine Synthese von zwei wesentlichen Elementen in Frank Lloyd Wrights Vermächtnis zum organischen Bauen interpretieren: seinem Bestreben, für die Häuser eine möglichst ideale Lage zu wählen, zum anderen die Vorliebe für eine rechteckige Grundrißgestaltung [...] Das Chmar-Haus scheint auf den ersten Blick beide Kriterien zu erfüllen. Tatsächlich gingen Scogin, Elam & Bray mit gleichem Einfühlungsvermögen vor wie Wright, ihr Haus ist jedoch voller rechtwinkliger geometrischer Formen und Auskragungen, die eigentlich mehr zum Dekonstruktivismus passen, der gewöhnlich in Städten anzutreffen ist und hier in radikalem Gegensatz zur Ruhe des unberührten Waldes erscheint. Wie läßt sich ein derart offensichtlicher Widerspruch auflösen?“

Nun, am besten, indem man ihn gar nicht erst konstruiert. Lloyd Wrights Haus „Fallingwater“, auf das sich Welsh bezieht, ist ein kompliziert, aber streng im rechten Winkel geschichteter Bungalow plus Turmbau, der über einem kleinen Wasserfall schwebt, ganz klar inspiriert von der Bauklötzchensystematik von De Stijl. Scogin, Elam & Bray kennen das prominente Beispiel gewiß, aber es spielt keine Rolle. Was sie kennen müssen, um so zu bauen, ist die jüngere kalifornische Villenarchitektur, den skandinavischen Bezug zum Holz; und japanische Finessen, was die Kunst betrifft, den Eindruck von Leichtigkeit hervorzurufen.

Mathematische und organische Häuser

Die Verirrung des Autors in aussichtslose Fragestellungen ist leider Methode. Das Buch ist in vier Kapitel geteilt, deren Einführungen sämtlich die Prototypen der Moderne abgrasen: Die ideale Villa, konstruktive Lösungen, organische Häuser, Kompromisse in der Stadt. Gezeigt werden Le Corbusiers „Villa Savoye“ und amerikanische Flachdachbeispiele von Gropius bis Marcel Breuer. Mies van der Rohe steht natürlich für Fensterwände, Lloyd Wright und Scharoun für Korrekturen am mathematischen Ethos der frühen Moderne. Modell für den Kompromiß ist Pierre Chareaus Maison de Verre – ein Glasbaustein-Haus, das um 1930 in einen Pariser Hinterhof geschachtelt wurde.

Im Sinne der Schmetterlingstheorie mag es der Fall sein, daß sich alles auf alles bezieht. Welsh – laut Klappentext Redakteur des Royal Institute of British Architects Journal – behauptet auf seinen ersten sechs Zeilen: „Im letzten Jahrzehnt hat die Architektur ihren Platz im internationalen Mediensystem gefunden: Heute werden Bauten wie Erdbeben, Staatsstreiche oder Prominentenhochzeiten mit rasantem Tempo als Bilder um die Welt geschickt. Das Ergebnis ist eine Verdichtung, die früher Jahre beansprucht hat.“

Es geht um komplizierte Architektur, und welche davon komplex ist, wäre erst zu klären. Architekten, die nicht die Hülle gegen den Binnenraum konstruieren, sondern ein Gefüge aus ineinander verschachtelten Einheiten, trauen sich viel zu – sie greifen tief ein ins Binnengefüge eines Hauses und definieren die Wirkung eines Raumes über aberwitzige Details. Dahinter steht aber nicht der Totalitätsbegriff der Moderne, sondern die Genreverachtung der Postmoderne. John Welsh weiß wenig zu sagen über die Prozesse dieser „Verdichtung“, mit denen er sein Buch so forsch beginnt.

Wer wissen will, wie groß das Chmar-Haus ist, wird übrigens in „Das moderne Haus“ nicht fündig. Das steht in einer anderen neuen Publikation, die etwas trocken „Neue Einfamilienhäuser in den USA“ heißt und ebenfalls 29 Beispiele in Fotografien, Beschreibungen und Plänen darlegt – ein dreißigstes belegt einen ekelhaften Protzbau in Zumikon bei Zürich, der zufällig von einem amerikanischen Architekten stammt.

Für das Buch ist Oscar Riera Ojeda verantwortlich, ein Neunundzwanzigjähriger aus Buenos Aires, der – wie es wiederum im Klappentext heißt – „seit mehr als zehn Jahren als Architekturjournalist und Grafiker“ so ziemlich überall in der westlichen Welt „tätig“ war – na ja. „Neue Einfamilienhäuser“ ist ein typisches Insiderprojekt der Architekturwelt, eine Sammlung von Bauten mit einem ordentlich geführten Verzeichnis der Daten. Allerdings wird manchmal der Bauherr oder der genaue Standort verschwiegen. Das Haus der Chmars hat 370 Quadratmeter Grundfläche, steht da, aber die Baukosten sind nicht verzeichnet.

Praktisch, wenn nicht sogar protestantisch

Bei einigen der Häuser aber doch, und man staunt: Für das Wochenend- und Ferienhaus „La Point“ in Michigan, 290 Quadratmeter Wohnfläche, waren 310.000 Mark (nicht Dollar!) Baukosten aufzubringen, die Erschließung inklusive. Mit vier gleichgroßen Zimmern im Parterre könnte der hölzerne Kasten nach dem Entwurf der Gruppe Wheeler Kearns Architects durchaus das Vorbild für ein egalitär gedachtes Familienhaus sein.

Aber auch für weniger protestantische Gemüter sind im Buch von Riera Ojeda Entdeckungen zu machen, so wie das Haus des Architekten Jonathan Levi, das er für sich und seine Familie gebaut hat, in einem Ort in Massachusetts. Es ist eine Art kleines Hochhaus, das auf ein steiles, sehr knappes Hanggrundstück gesetzt ist. Ein ehemaliges Künstlerstudio, das direkt an der Straße steht, dient als Garage, die über eine schmale Brücke mit dem Haus verbunden ist. Man betritt das Haus auf der zweiten von sechs Ebenen, die getürmt sind bis zum Penthouse. Eine auf halber Höhe beginnende Schräge erinnert an ein Getreidesilo, aber das ganze Haus wirkt auf den Fotografien wie die Spielzeugminiatur eines Forts, und zwar im Westernstil. Das liegt vor allem an der Verwendung von Sperrholz als Außenhaut. Wie fast alle interessanten Häuser in beiden 30-Häuser-Büchern hat das fertige Haus den Schein des Unfertigen, und die Technik besteht in der Verknüpfung von Holz und Technologie.

Die beiden Bücher, parallel gelesen, zeigen eine lebhafte Szene: meist lokale Architekten mit sichtbar internationalen Erfahrungen oder internationale Architekten mit einem hochentwickelten Gespür für lokale Besonderheiten. „Das moderne Haus“ deckt ein riesiges Spektrum ab, von der relativ biederen Schließung des Rochester Place in Camden Town, London, durch zwei Häuser von David Wild, bis zum verzwickten Gästehaus der Familie Winton in Wayzata, Minnesota, ein Ensemble auf grüner Wiese mit dem

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Grundriß schwer demolierter Windmühlenflügel; der Architekt: Frank Gehry.

Die visuell schlagendsten Beispiele sind jedoch aus Japan, vor allem ein kaum als solches zu erkennendes Wohnhaus – entworfen im Büro von Eisaku Ushida und Kathryn Findlay –, irgend etwas zwischen geschmolzenem Reaktor und baskischer Zuckerdose aus dem Jahr 2100: ein nach innen muschelartig angelegtes Ungetüm mit den üblichen Nachteilen des höhlenartigen Wohnraums, wie man sie von Schiffen kennt.

Dem gleichen Impuls, nämlich in einem nichtssagend zerbauten Vorort ein Zeichen zu setzen, entstammt das „Kubistische Haus“ von Shinichi Ogawa, ein völlig offener Glaskubus, in den der geschlossene Wohnraum eingelassen ist als monolithischer Quader. Keine Einfamilienhausarchitektur – nicht in Australien, nicht in Belgien – ist von der Radikalität der japanischen.

Isländer bauen für den Vordertaunus

Aus Deutschland stammen zwei Beispiele, ein auf einer Garage schwebender Anbau durch Dirk Alten in Braunschweig und ein „Haus im Vordertaunus“, entworfen von einem isländischen Architektenbüro namens Studio Granda. Hier ist die Entstehungsgeschichte des Entwurfs von Belang. Die Bauherren starteten einen begrenzten Wettbewerb, der von einer fünfköpfigen Jury durchgeführt wurde.

Einer der fünf, der Architekturtheorie in Cambridge lehrt, gab vor, daß das Thema des Wettbewerbs die „Hypnerotomachia Poliphili“ sein sollten, ein Roman um 1500, der als „Häuser“ zwei Pole ins Spiel bringt, das Haus einer Göttin und das Haus ihres düsteren Gegenspielers. Studio Granda antwortet mit einem verhärmten roten Steinhaus – wenig Fenster, schmuckloses Satteldach – und einem mit Kiefernbrettern verkleideten gigantischen Schuppen, der lieblich aussehen würde, stünde er im Gewerbegebiet.

Wenn man „das Neue“ dieser Architektur erklären wollte, die zur Bewunderung und Publizität gedacht ist, müßte man auch die Sozialgeschichte der Familien in Erfahrung bringen, die darin wohnen. Sonst begreift man nicht, warum die interessantesten Einfamilienhäuser die sind, die das Genre nicht respektieren, Anleihen machen bei Hotels, Flughäfen, Gewerbegebäuden, Bunkern und Gartenlauben – bisweilen bezogen aufs gleiche Objekt.

Wie kommt es denn, fragt man sich, daß die wichtigsten Beispiele extreme Hybriden sind? Und wie findet man den Weg vom unfreiwilligen Kompromiß zum alles in sich bergenden Genreverschnitt?

Riera Ojeda kann und will das nicht erklären: Er greift auf die Beschreibungen der Architekten zurück und übersetzt sie in eine gut lesbare Sprache. Man kommt in die Häuser hinein, aber nicht wieder hinaus.

Mit John Welsh liegt die Sache komplizierter, weil sein Buch schließlich die visuellen und baulichen Formen anbietet, an deren Deutung es so augenfällig vorbeiläuft: „Die meisten in diesem Band vertretenen Architekten nehmen vielleicht bestimmte Elemente früherer Häuser auf, doch weichen alle von der puristischen Reinheit des Originals ab, weil sie versuchen, den Anforderungen des Bauherrn oder seiner Familie gerecht zu werden.“

Es gehört zu den Verblendungen der romantischen Modernen, daß sie in der Komplexität des Neuen nichts anderes erblicken als die falschen Deklinationen eines richtigen Esperanto.

John Welsh: „Das moderne Haus“. 240 Seiten, gebunden, Verlag Ernst und Sohn, 128 DM.

Oscar Riera Ojeda (Hrsg.): „Neue Einfamilienhäuser in den USA. Die neueste Entwicklung im Einfamilienhausbau, dargestellt an 30 Beispielen“. 259 Seiten, Broschur, Karl Krämer Verlag, 118 DM.