Risikomeiler soll wieder ans Netz

Umweltminister Schäfer (SPD) will AKW Obrigheim wieder anfahren. Greenpeace zugespielte Unterlagen schüren Sicherheitszweifel  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) – Über die Zukunft des derzeit abgeschalteten Atomkraftwerks Obrigheim (KWO) am Neckar bahnt sich eine neue Zerreißprobe an. Der baden-württembergische Umweltminister Harald B. Schäfer (SPD) will den Betreibern des umstrittenen 357-Megawatt-Altmeilers nach Informationen der taz Anfang kommender Woche das Wiederanfahren erlauben. Der Greenpeace-Atomexperte Helmut Hirsch warf dem bekennenden Atomkraftgegner Schäfer gestern vor, das Risiko eines Super-GAUs „wider besseren Wissens in Kauf“ zu nehmen.

Zum Beleg veröffentlichte die Umweltorganisation interne Unterlagen der Bonner Reaktorsicherheitskommission (RSK) über die „Sprödbruchsicherheit“ des Reaktordruckbehälters. Danach könne nicht ausgeschlossen werden, daß das stählerne Gefäß, in dem sich der Reaktorkern befindet, entlang einer hochbelasteten Schweißnaht auseinanderbricht, wenn bei einem schweren Störfall eingepumptes Notkühlwasser die Behälterwand rasch abkühlt.

Schäfer hatte dem Betreiber bereits 1992 aufgegeben, den Sprödbruchsicherheitsnachweis bis Ende 1993 zu führen. Doch noch im Frühjahr 1995 erklärten das Darmstädter Öko-Institut und die atomkritischer Neigungen bisher nicht verdächtige Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) – beide vom Stuttgarter Umweltminister einbezogen –, der Versprödungszustand der zentralen Schweißnaht sei nicht bekannt. Bei der Herstellung des Druckbehälters Mitte der Sechziger war versäumt worden, vergleichbare (im Fachjargon: „repräsentative“) Proben der Schweißnaht herzustellen und im Reaktor als sogenannte „mitlaufende Proben“ der versprödenden Neutronenstrahlung auszusetzen. Daraufhin drohte Schäfer mit Stillegung und verlangte eine eingehende „zerstörungsfreie Prüfung“ der gesamten Schweißnaht, die der Betreiber im Laufe der gegenwärtigen Revisionsphase mit immensem Aufwand durchführen ließ.

Den Sprödbruchsicherheitsnachweis können die Kraftwerksbetreiber nach den geltenden atomrechtlichen Regelwerken entweder mit diesen Proben oder, falls solche Proben – wie im Fall Obrigheim – nicht verfügbar sind, mit Hilfe US-amerikanischer Rechenverfahren, dem sogenannten „Regulatory Guide Nr. 1.99“, führen. Berechnet wird die Temperatur (Sprödbruchübergangstemperatur), bei der der zähe Behälterstahl schlagartig spröde und brüchig wird. Bei längerem Reaktorbetrieb liegt diese Temperatur immer höher. Greenpeace kommt auf Basis der US-Normen für Obrigheim auf eine Übergangstemperatur von „etwa 200 Grad Celsius“. In einer „Tischvorlage“ der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) für eine RSK-Ausschußsitzung am 21. September wird jedoch unter ungünstigen Bedingungen eine „maximal zulässige“ Übergangstemperatur von „etwa 150 Grad Celsius“ genannt. Wird die Reaktorwand durch frisches Kühlwasser kälter, würde sie spröde. Greenpeace schlußfolgert: „Das Bersten des Reaktordruckbehälters kann nicht ausgeschlossen werden“. Die kritischen Gutachter von Öko-Institut und BAM sind vorsichtiger. Zwar, argumentierte die BAM in internen Sitzungen im Schäfer-Ministerium, liege der Werkstoffzustand der Schweißnaht nach wie vor im Dunkeln, doch sei der Fehlerzustand der Schweißnaht nach den Untersuchungen der letzten Wochen besser bekannt. Größere Risse oder sonstige Fehler hätten sich nicht gefunden. Darüber hinaus hätten neue Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik (IWM) in Freiburg über die mechanischen Belastungen im Falle schwerer Störfälle (Thermoschock) niedrigere Belastungen ergeben, als bisher angenommen. Deshalb gebe es „unter dem Aspekt der Sprödbruchsicherheit keine Bedenken“ mehr gegen ein Wiederanfahren des Reaktors. Schäfer will diesem Votum seiner Gutachter folgen.

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