Herumhängen als Schöne Kunst

Felix Tournachon, genannt Nadar, hatte sich mit seinen 20 Jahren schon als Medizinstudent und Gelegenheitsschriftsteller, Karikaturist, Modezeichner und Reporter für allerlei halbseidene Journale durchzuschlagen versucht, als er im Jahr 1840 darauf verfiel, eine „Feste Champestre“ zu veranstalten, eine glänzende Soiree, bei der eine große Zahl bekannter Schauspieler und Literaten anwesend sein würde – und außerdem, falls das zum Anreiz nicht genügen sollte, „auch saubere Frauen“.

Die Party wurde ein voller Erfolg. Die Menschenmenge drängte sich bis auf die Straße hinunter im Treppenhaus. Was Wunder, denn die auf den überall in Paris geklebten Plakaten angekündigten Attraktionen waren verlockend: Nach einer Parade, Taubenschießen und Schaukeln, zwei Maskenzügen und einer Nachstellung klassischer Statuen durch den unbekleideten Herrn Léon Noäl folgte als Höhepunkt eine „Anatomiestunde“ sowie eine „bakteriologische Persiflage nach Molière“: „La Variocèle malgré lui“ (Der Hodenbruch wider Willen), von maskierten Damen in Szene gesetzt.

Wer in dieser wunderbaren Monographie über Nadar liest, macht eine Zeitreise zurück ins Leben der ursprünglichen Boheme. Nadar gehörte zu jenem ersten Kreis von Dandys und verkrachten Existenzen, die im Paris der vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das Herumhängen zur Schönen Kunst entwickelten. Einer seiner engsten Freunde, Henri Murger, machte sie später zur Legende durch seine „Scènes de la vie de bohème“, heute eher bekannt durch Puccinis Oper und Kaurismäkis Film.

Der hervorragende biographische Beitrag von Maria Morris Hambourg zeigt unter anderem, wie sehr sich die Porträtkunst Nadars dem Lebensstil der Boheme verdankt. Denn die Porträtsitzungen Nadars in seinen kreativsten Jahren zwischen 1854 und 1856 waren von dem gleichen Geist der theatralischen Verführung bestimmt wie die Parties der Boheme – Lockerungsübungen einiger nicht mehr ganz bürgerlicher Subjekte und karnevalistische Selbststilisierung zugleich.

Alle Tafeln des Bandes sind mit detaillierten Anmerkungen versehen, die die Geschichte und die Hintergründe der Aufnahmen erzählen. So erfährt man, daß es Nadar war, der dem Zeichner Honoré Daumier den würdigen Umhang verpaßte – der Fotograf kaschierte die schäbige Straßenkleidung des bewunderten Vorbilds und schuf damit zugleich ein Image. Ein anderes Foto zeigt, wie schon die junge Kunst der Fotografie nicht nur aus der Stilisierung, sondern auch aus dem Kontrollverlust über das Modell Profit zieht. Jene „Ernestine, die uns hier über 140 Jahre hinweg anschaut, war zur Zeit der Aufnahme die Liebste des Fotografen.

Hat man jemals zuvor solche selbstgewisse Reserve eines Modells gesehen? Vielleicht ist dies das erste Bild der nachmals – aber erst wieviel später! – sogenannten „neuen Frau“. Die sich hier kokett über die fotografische Porträtkunst zu mokieren scheint, wurde bald die treibende Kraft im Leben Nadars. Ohne sie wäre aus dem Tüftler und Projektemacher, der stets in seinen Flausen unterzugehen drohte, wohl niemals der Porträtist eines Jahrhunderts geworden.

„Nadar“. Hg. von Maria Morris Hambourg, Françoise Heilbrun, Philippe Neagu. Schirmer/Mosel Verlag, 284 Seiten, geb., 98 fünffarbige Tafeln, 148 DM