Ein narzißtischer Prophet

Nach der Lektüre von Breuers Studie rate ich dringend, den zeitkritischen Essay von Gilles Lipovetsky vorzunehmen. Nicht weil es sich um ein gelungenes, sondern gerade weil es sich um ein ganz und gar verpfuschtes Buch handelt, aus dessen Scheitern sich allerdings lernen läßt. In „Narziß oder Die Leere“ kommt ein dem Breuerschen verwandtes kritisches Instrumentarium zur Anwendung. Auch hier ist, wie der Titel schon ahnen läßt, viel von Narzißmus die Rede. Der Begriff ist hier allerdings nicht in der strikten psychoanalytischen Manier verwendet wie bei Breuer, der sich vor allem auf die Schriften von Heinz Kohut, dem Begründer der Narzißmustheorie, beruft. Lipovetsky kommt mehr von der Zivilisationskritik Christopher Laschs her, der Ende der siebziger Jahre die „Kultur des Narzißmus“ beschrieben und in Bausch und Bogen verworfen hatte. Während Breuer Material zur Selbstaufklärung der Intellektuellen liefert, bietet Lipovetsky, offenbar ohne daß es ihm je bewußt würde, ein Potpourri kritischer Gemeinplätze, das nur notdürftig von dem Generalbaß des permanenten Narzißmusverdachts zusammengehalten wird. Feminismus, Bodybuilding, die Zunahme von Talk- Shows, Doping im Sport, Tanzstile in der Disco, Gewaltdarstellungen im Kino, Drogenkonsum, Pornographie – alles wird mit der „narzißtischen Destabilisierung und Desubstantialisierung“ in der „Postmoderne“ erklärt. Der „allmählichen Zersetzung der wesentlichsten Bezugsrahmen und der Leere des Hyperindividualismus entspricht eine inhaltslose Radikalität der Verhaltensweisen und Repräsentationen, die Zeichen und Alltagsgewohnheiten werden ins Extrem getrieben, allenthalben ist derselbe extremistische Prozeß am Werk, die Zeit der Bedeutungen, der starken Inhalte ist ins Wanken geraten, wir leben nun in einer Zeit der Spezialeffekte und der reinen Leistungsbezogenheit, des leeren Einanderüberbietens und Sichaufblähens“.

Wenn Lipovetsky so richtig in Schwung kommt, entgeht ihm leider, wie sehr seine eigene Rhetorik der Logik des Einanderüberbietens und Sichaufblähens gehorcht. Selbstverständlich versteht sich dieses Prophetentum als politisch links oder wenigstens „progressiv“. Wer aber Breuers Prophetengalerie in Augenschein genommen hat, wird solche Selbstbeschreibung nicht so einfach hinnehmen. Auch Lipovetskys Tiraden sind nicht frei von ästhetischem Fundamentalismus: Ästhetisch ist sein Zugang insofern, als die Welt ganz impressionistisch nach dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit geordnet wird (alle gesellschaftlichen Phänomene folgen einem Muster – Narzißmus); fundamentalistisch ist dieses Denken in seiner Polemik gegen den Individualismus, in seinem ständigen Rekurs auf das Phantasma starker Inhalte, tiefer Bedeutungen, einer verlorenen Fülle. Das Buch ist, wenn man es nicht überdosiert einnimmt, nach der Lektüre des Breuer ein erstklassiges Therapeutikum. Man sollte es sich stückweise wie bei einer antiallergischen Desensibilisierung zuführen. Zweimal täglich ein paar Zeilen von diesem Stoff, und bald schon wird dich eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ein paar brauchbaren Differenzierungen überkommen.

Gilles Lipovetsky: „Narziß oder Die Leere. Sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart“. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. Europäische Verlagsanstalt, 314 Seiten, geb., 44 DM