Unbegrenzt unselbständig

Das neue Buch von Stefan Breuer liest sich passagenweise wie eine gothic novel von der Zerstörung der Vernunft in Deutschland. Die Studie über „Stefan George und den deutschen Antimodernismus“ streift immer wieder das Unheimliche, so zum Beispiel wenn Breuer aufzählt, in welch jungen Jahren viele der treu ergebenen Jünger Georges gestorben sind und nebenbei fallenläßt, daß die Todesursachen neben Selbstmord auffällig oft Erkrankungen waren, die mit dem Stoffwechselsystem zusammenhängen. Breuer seziert das psychosoziale Stoffwechselsystem jenes Intellektuellenzirkels, der wie kein anderer die geistige Situation des Fin de siècle und der Vorkriegszeit in Deutschland prägte. Zugleich liefert die Studie Material zur Beschreibung eines Typus der Revolte gegen die Moderne, der hierzulande bis heute prägend ist: „Ästhetischer Fundamentalismus“ ist das von George entwickelte Modell von Dagegensein, dem noch Botho Strauß in seinem „Bocksgesang“ folgte.

Es ist ungemein erhellend, die jüngsten Ausbruchsversuche in diese Tradition zurückgestellt zu sehen. Man hat sich zu schnell damit beruhigt, daß Strauß' Protest von ihm selbst politisch kodiert war und sich als „rechts“, „konservativ-revolutionär“ oder gar „faschistisch“ einordnen ließ, je nach dem gewünschten Maß der Feindschaft. Breuer glaubt nicht an die Macht solcher Bannflüche. Er fragt deshalb den Gründen nach, die schon Stefan George zur Haltung des „ästhetischen Fundamentalismus“ führten. Und er fragt nach der Disposition, die seine Jünger dazu antrieb, sich von einem Meister Heilung zu erwarten, der sie einem rigiden Regiment unterwarf und sie oft genug quälte.

Der Schlüssel zum Verständnis Georges – und seiner Wirkung auf solche begabten Köpfe wie Friedrich Gundolf, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Klages, Ernst Kantorowicz, Ernst Bertram, Max Kommerell, um nur die bekanntesten zu nennen – findet Breuer in der Psychopathologie des gestörten Narzißmus. Atemberaubend, wie Breuer das „hohe Leben“ in Georges „Staat“ – die Intrigen, Angliederungs- und Trennungsriten des Meisters, das Schwanken der Jünger zwischen dem Grauen vor seiner Macht und dem Sprung kopfüber in die Hörigkeit – als Reversbild einer Symbiose von Narzißten erscheinen läßt. Breuer denunziert den Kreis nicht, er spricht nicht als Therapeut ex post und bläst sich auch nicht als Entlarver auf. Die Diagnose der narzißtischen Störung und der auf ihr aufbauenden Sektenstruktur des George-Kreises macht ihn nicht blind für die modernitätskritische Sensibilität, die hier gedieh. Und umgekehrt: Er spricht von Klages' präökologischen Prophezeiungen der Naturzerstörung, ohne von seinem Ressentiment und seinem Antisemitismus zu schweigen. Breuer verfügt über einen soziologisch kalten Blick und ästhetische Urteilskraft zugleich. Und er hat den nötigen Sinn für die Ironien des Prophetenlebens, der seinen Studienobjekten abgeht. Die Porträts aus der Münchener Boheme sind brillante Versatzstücke einer noch zu schreibenden Geschichte des Grotesken in der modernen Kulturkritik. Rudolf Pannwitz etwa, einer der bekannteren Münchener Gurus, sah sich 1918 als den einzigen „heute regierenden der unsterblichen dynastie nietzsche“ und befand: „gegen den in den schlechten trieben den modernen lastern ,feilheit feigheit trägheit geiz und gier‘ fundierten raffiniert verlognen wie brutal unverschämten egoismus kann kein organisches ethos nur eine fanatische religion siegen.“ Wer wird sie wohl bringen, die neue Heilslehre? Richtig geraten: Pannwitz heißt er.

Am Ende lebte Pannwitz, wie es sich für einen Propheten gehört, arm und fast vergessen im selbstgewählten Exil (Dalmatien). Daß er schreiben und veröffentlichen konnte, verdankte er „neben seiner Frau Helene einer ganzen Reihe von Geliebten, später, als er praktisch ein Sozialfall war, seiner Jüngerin und zweiten Frau Charlotte, die ihn mit ihrem Einkommen als Ärztin über Wasser hielt. So endeten die großen Propheten, die die Welt durch einen Männerbund zu erlösen und die Frauen ins ,begrenzt Unselbständige‘ (Pannwitz) zurückzustufen getrachtet hatten, als unbegrenzt Unselbständige in einer von Frauen bestimmten Sphäre – eine Ironie, für die sie indes angesichts der notorischen Humorlosigkeit aller Propheten vermutlich nicht den geringsten Sinn gehabt haben dürften.“

Stefan Breuer: „Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 274 Seiten, 49,80 DM