Novel Food für Analphabeten

Bei den EU-Bildungsministern steht eine Abstimmung über die Kennzeichnung von Gentec-Lebensmitteln auf der Tagesordnung  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Soviel Aufmerksamkeit hatten die EU-Bildungsminister selten. Normalerweise haben ihre Zusammenkünfte eher den Charakter eines Klassentreffens, im EU-Kalender spielt Bildung keine große Rolle. Aber heute steht eines der umstrittensten Gesetze der EU auf ihrer Tagesordnung: die Verordnung über die Kennzeichnung von genmanipulierten Lebensmitteln. Ohne Diskussion sollen die Bildungsminister ein Gesetz voranbringen, das die Verbraucher wie Analphabeten behandelt.

Das Europäische Parlament hat bereits klargemacht, daß es dem Entwurf auch in zweiter Lesung nicht zustimmen wird. Aber der Ministerrat, in dem die EU-Mitgliedsregierungen vertreten sind, will es darauf ankommen lassen, um anschließend im Vermittlungsausschuß so viel wie möglich für die Gentechnik-Industrie herauszuschlagen.

Nach der Beschlußvorlage des Ministerrates muß auf dem Etikett gentechnisch manipulierter Produkte nur im Ausnahmefall stehen, was im Labor gemacht wurde. Lediglich wenn die Nährwerteigenschaften gegenüber herkömmlichen Produkten „signifikant verändert sind“, wenn der Verbraucher es also ohnehin merkt, dann soll er es auch schriftlich erfahren. Alles andere würde ihn nur verwirren, meint EU-Industriekommissar Martin Bangemann, der den Entwurf ausgearbeitet hat.

Kleinere Eingriffe, wenn etwadie Tomatensaat gentechnisch gegen Pilzbefall resistent gemacht wurde, darf die Industrie verschweigen. Und auch auf dem Tomatensaft muß nicht draufstehen, was Biotechniker mit der Tomate angestellt haben. Bangemann meint, man sollte der Industrie das Zukunftsgeschäft nicht durch mißtraurische Verbraucher kaputtmachen. Chemieriesen wie Schering oder Hoechst haben viele Millionen in die Gentechnik investiert: in nur langsam faulendes Gemüse, in Raps, der die schärfsten Insektengifte aushält und in Getreide, das mehr Kunstdünger aufnimmt als normal und dadurch größere Körner hervorbringt.

Eine Mehrheit der EU-Regierungen ist wie Bangemann der Meinung, daß die Verbraucher das alles nicht wissen müssen. Österreich, Dänemark und Schweden sind anderer Ansicht, können den Beschluß aber nicht verhindern. Die deutsche Regierung ist in der Sache gespalten. Der Gesundheitsminister verlangt eine strenge Kennzeichnungspflicht, die der Wirtschaftsminister aber für überflüssig hält. Da die deutschen Wähler bei dem Thema sensibel sind und die nötige Mehrheit auch ohne deutsche Zustimmung zustande kommt, hat man in Bonn beschlossen, dagegen zu votieren und sich überstimmen zu lassen.

Deshalb sieht man es gar nicht gern, daß die Dänen sich nicht an die Abmachung halten wollen und angekündigt haben, eine Erklärung abzugeben, daß sie die Verordnung eigentlich nicht wollen. Denn dann könnten sich auch der deutsche Vertreter gedrängt fühlen, etwas zu sagen. Nur was? Die Ansicht des Gesundheitsministers oder doch die seines Kollegen aus dem Wirtschaftsressort?

Deshalb wurde die Abstimmungsprozedur den Bildungsministern untergeschoben. An sich ist es nicht ungewöhnlich, daß ein Gesetz wie die Kennzeichnungs-Verordnung nicht von den zuständigen Wirtschaftsministern beschlossen wird. Die treffen sich erst wieder in einigen Wochen — und solange will man das Parlament nicht warten lassen. Wenn ein Thema von den Ministerial-Beamten der 15 Mitgliedsregierungen fertig ausgehandelt ist und die Mehrheitsverhältnisse feststehen, dann ist es egal, welche Fach-Minister die Abstimmungsformalitäten machen. Nur bei umstrittenen Themen bekommt es den Geruch, daß etwas versteckt werden soll. Sowohl die Agrar- als auch die Arbeitsminister haben sich geweigert, die undankbare Aufgabe zu übernehmen. Die Bildungsminister gehen hingegen offensichtlich davon aus, daß bei ihnen ohnehin niemand zuhört.