Wie auf dem Wochenmarkt

■ Die „Dritte Heimat“ im Internet – Ein Bericht von der Kölner Digitale

Die „Dritte Heimat“ findet im Internet statt. Die zweite Fortsetzung von Edgar Reitz' Mammutserie über die deutsche Nachkriegsgeschichte will der Regisseur nicht mehr im Fernsehen zeigen. Statt dessen soll die Serie unter dem Titel „Die Erben“ in dem Computernetz Internet abrufbar gemacht werden. Und wer glaubte, daß die 26 Stunden von „Die zweite Heimat“ eine ganze Menge Stoff waren, wird sich wundern: Reitz hat angeblich 200 Autoren engagiert, die parallel ablaufende Geschichten erfinden.

Der Benutzer soll sich dann nach seiner eigenen Wahl von einer Story zur anderen manövrieren können. „Wie auf dem Wochenmarkt“, sagt Reitz, wo man eigentlich Äpfel kaufen will, aber mit Blumenkohl nach Hause geht, soll der Zuschauer sich in den Geschichten verirren und etwas ganz anderes mitnehmen, als er ursprünglich haben wollte. Reitz will dafür einen eigenen Online-Dienst mit dem Namen „Magic Net“ ins Leben rufen, über den man an den Abenteuern der „Erben“ teilnehmen kann. „Man muß sein eigenes Medium schaffen“, sagt Reitz, dessen Filmserie „Die zweite Heimat“ bei der Erstausstrahlung in der ARD 1993 nicht die erwarteten Einschaltquoten erreicht hatte.

„Interaktiv“ nennt man es, wenn der User eines Mediums selbst in dessen Fortgang eingreifen kann. Aber vertragen auch (Kino-)Geschichten diese Art der Interaktion mit ihrem Zuschauer? Das war eine Frage, die sich bei der ersten Digitale in Köln in der vergangenen Woche stellte. Die Digitale, eine Konferenz der Kölner Kunsthochschule für Medien, widmete sich zum Einstand dem Einfluß, den die neuen digitalen Computertechnologien auf das Kino haben. Eingeladen von Clea „T“ Waite, Nils Röller und Kirk Woolford, dem Mann, der der Welt den Cybersex-Anzug gab, trafen sich an drei Tagen im Kölner Stadtgarten Filmregisseure, Computerprogrammierer, Medienkünstler und anderes digitales Volk. Siegfried Zielinski, Rektor der Kölner Medienschule, sprach vorab von den „Alchimisten unserer Tage“.

Was passiert aber nun, wenn der Computer die Filmkamera trifft? Wenig Aufregendes, möchte man nach der Digitale sagen. Das Kino scheint sich durch die neuen Technologien eher rückwärts als vorwärts zu entwickeln. Ein Symptom dieser Regression sind zum Beispiel die „Ride“-Filme der holländischen Firma „Trix Computer Graphics & Effects“, die nur in technisch aufgerüsteten Kinos vorgeführt werden können. Auf einer riesigen Leinwand werden computergenerierte Fahrten durch ein Bergwerk oder einen Flipper gezeigt, während das Publikum in präparierten Stühlen kräftig durchgeschüttelt wird, um Fahrvergnügen zu simulieren.

Hier kehrt das Kino zu seinen historischen Ursprüngen zurück: zur Jahrmarktsbelustigung für die niederen Stände. Auch die Omnimax-Filme, die die französischen Kinoproduzenten Pierre-Jean Lievaux und Maurice Kufferath für die Kuppelleinwand des Pariser Géode-Kinos mit dem Computer gemacht haben, bieten vor allem Augenkitzel.

Auch Filme von Künstlern müssen nicht unbedingt innovativ sein. Durch die Hintertür wird bei den nicht gegenständlichen Videos von Masa Inkage, Christine Chang und Yoichiro Kawaguchi eine in der Kunst lange in Vergessenheit geratene Vorstellung von Abstraktion zu neuem Leben erweckt, besser: computeranimiert. Seifenblasen in wechselnden Farben wabern über die Leinwand, pilzartige Strukturen wuchern das Bild zu, und alles ist so makellos sauber wie eine Airbrush-Zeichnung. Diese Sterilität beherrscht immer noch das meiste, was heute an Graphik und Animationsfilmen computergeneriert, wie auch einige der Künstler selbstkritisch zugaben. „Bei der Computergraphik fehlt der Dreck“, sagte der amerikanische Fotograf John Grimes.

„Absolute Filme“, wie die von Inkage, Chang und Kawaguchi, die keine Referenzen an eine abbildbare Wirklichkeit enthalten, hat schon in den zwanziger Jahren der deutsche Kinopionier Oskar Fischinger produziert. Heute illuminieren stilistisch ähnliche Ambient- Videos die Rave-Diskotheken, die dort aber niemand als Kunstwerke ansieht, sondern als Gebrauchsmittel: als eine Art „optische Musik“, die das Tanzerlebnis verstärkt.

So offenbarten die meisten Beiträge zur Digitale einmal mehr das zentrale Problem der sogenannten „Medienkunst“: Es wird immer schwieriger, mit den neuen Medien etwas zu schaffen, das man nicht schon besser und schneller bei MTV oder in der Videospiel-Arcade gesehen hat.

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Fortsetzung

Hollywood-Kino werden digitale Computereffekte gerne benutzt – weil sie billiger sind als die meisten teuren Special Effects: Waren die Computereffekte von „Forrest Gump“ und „Der Rasenmäher- Mann“ als technologische Pionierleistungen noch ein Medienthema, werden mittlerweile sogar schon Mittelalter-Melodramen wie der gerade angelaufene Film „Braveheart“ digital nachbearbeitet, wie die amerikanische Digital-Effects- Expertin Tricia Ashforth berichtete.

Computertricks übernehmen zunehmend die Rolle der Second Unit, des zweiten Filmteams, das bei großen Kinoproduktionen bisher die unwichtigen Szenen und Details drehte, für die der Regisseur keine Zeit hat, wie der britische Dokumentarist Keith Griffins beobachtet hat. Aber sollten ein paar hübsche computergenerierte Bilder und ein billiger Ersatz für kostspielige Special Effects wirklich alles sein, was die Verbindung von Computer und Filmkamera gebracht hat? Nicht ganz. Das bewies der letzte Tag der Digitale, bei dem es um die Frage ging, ob man mit interaktiven Medien noch Geschichten erzählen kann.

Die australische Künstlerin Jill Scott stellte ihr Modell eines „mosaikischen Denkens“ vor, das sie mit dem neuen Medium CD-ROM eröffnen will. Statt eine Geschichte linear von A nach B zu erzählen, will sie in ihren Installationen dem Betrachter die Möglichkeit geben, selbst den Fortgang einzelner Erzählfäden zu beeinflussen. Auch die amerikanische Künstlerin Rachel Strickland versucht, interaktive Formen des Erzählens mit dem Computer zu neuem Leben zu erwecken: In ihren „Hinterhofgeschichten“ können Kinder aus einer riesigen Auswahl von kurzen Geschichtenbruchstücken ihre eigene Story zusammensetzen.

Das gefiel auch Edgar Reitz: „Die Chronologie spielt keine Rolle mehr“, erklärte er; moderne Geschichtenerzähler müßten – wie Homer in seiner Odyssee – vielmehr aus einer Vielzahl von Geschichten eine neue Legende zusammensetzen. Bis auf weiteres befindet sich das Genre der Medienkunst freilich eher in einem Prozeß der Selbstzersetzung: So ähnlich die Ideen sind, die sich an die digitalen interaktiven Medien knüpfen, so verschieden sind zur Zeit die Formate, und monatlich kommen neue dazu: Ob es die CD- ROM oder die CD-I oder das Internet sind, die die Segnungen der digitalen Medien zu den Verbrauchern bringen, ist zur Zeit noch vollkommen unklar. Bei der Eröffnungsvorstellung im Kölner Kino Residenz lagen die Beiträge immerhin in zwanzig verschiedenen Formaten, von Super8 bis NTSC, vor.

Bewegte Bilder, wie Reitz sich das vorstellt, können in absehbarer Zeit sowieso nicht per Internet transportiert werden. Wie sich die Anwendung der neuen Technologien für den Verbraucher darstellt, könnte eine etwas erdverhaftetere Digitale beschäftigen. Bis dahin gilt wohl Edgar Reitz' Statement: „Für das Kino bewegen mich zur Zeit seltsame Gefühle.“ Tilman Baumgärtel