■ 23,6 Prozent in Berlin sind eine letzte Warnung für die SPD. Ihre Existenz als Volkspartei ist in Frage gestellt
: Virtualisiertes Programm

Der Ausgang der Wahlen in Berlin war nach den Entwicklungen des vergangenen Jahres für die Sozialdemokratie kaum noch eine Überraschung. Er ist mehr als nur ein Denkzettel. Er ist der aktuellste Ausdruck einer Krise, die jetzt bedrohliche Dimensionen angenommen hat. Weniger als 25 Prozent in einer Stadt, in der die SPD einst komfortable absolute Mehrheiten errang, das ist nicht nur ein herber Verlust. Es ist die Infragestellung der politischen Existenz der Sozialdemokratie als Volkspartei. Zur Identität der Partei gehörte in ihrer gesamten Geschichte neben einem glaubwürdigen Reformprogramm stets auch der glaubhafte Anspruch, es mehrheitsfähig machen zu können. Es ist diese Doppelbindung, als Programmpartei eine Volkspartei und als Volkspartei Programmpartei sein zu können, die die Erfolge der SPD in ihrer über 130jährigen Geschichte möglich gemacht hat.

Mit dem Verdikt der Berliner Wählerschaft scheint dieses Lebensband in Auflösung. Vom Programm der Sozialdemokratie zur Reform unserer höchst reformbedürftigen Gesellschaft ist nirgends mehr die Rede. Ist das nun der Beweis für Ralf Dahrendorfs scharfrichterliche These, das sozialdemokratische Jahrhundert sei zu Ende? Hat sich die Mission der alten Mehrheitspartei endgültig erschöpft, weil sie sich im Kern durch Sozialstaat und Demokratie erfüllt hat? Dahrendorfs Satz findet – wen könnte das überraschen? – gerade überall neue Freunde. Erklärt er die Krise der SPD?

Ich sehe zwei strukturelle Gründe, die in Veränderungen der Gesellschaft liegen, und zwei sich verschärfende Handlungsdefizite der SPD selbst, besonders ihrer Führung. Beide Arten von Gründen ergänzen und verstärken einander fortwährend.

Der erste gesellschaftliche Grund: Das große sozialmoralische Milieu der Arbeiter-und-Angestellten-Gesellschaft, aus dem die SPD einst eine fast automatische Unterstützung erhielt, ist verschwunden. Modernisierung, Bildungsreform, Individualisierung und Wertewandel haben eine Vielzahl kleinerer und höchst widersprüchlicher Milieus an seine Stelle gesetzt. An den sozialen Orten, wo sich noch bis in die siebziger Jahre die lebenslangen Gefolgsleute sozialdemokratischer Gesellschaftsvision und Lebensart befanden, finden sich heute aufstiegsorientierte Individualisten, sicherheitsbedürftige Kleinbürger, Alternative, skeptische neue Arbeitnehmer und – die traditionellen Arbeitnehmer seligen Angedenkens, aber als schrumpfende Minderheit.

Unter diesen erschwerten Umständen könnte der SPD nun zweierlei helfen. Politische Projekte, die glaubhaft bündeln, was viele in vielen dieser Milieus überzeugen kann. Und, vielleicht noch wichtiger, durch überzeugende und wirksame Dauerkommunikation die Unterstützungskoalitionen für ihre politischen Projekte immer neu zu schmieden, die in der differenzierten Gesellschaft eben nicht mehr auf Abruf bereit stehen. Genau darin versagt die Partei.

Der zweite gesellschaftliche Grund: Der Charme der großen einfachen Lösungen für politische Probleme ist verwelkt – Sozialisierung, Rahmenplanung, Mitbestimmung bewegen nichts mehr. Keynesianische Wirtschaftspolitik hat an der Globalisierung der Märkte ihre Grenze gefunden. Ökologisierung der Wirtschaft, sozial verantwortliche Technikpolitik, flexible Arbeitszeit, Infrastrukturpolitik, Medienpolitik, um nur sie zu nennen, sind wichtig, notwendig und nützlich. Aber sie trennen, wenn es zum Handeln kommt, Sozialdemokraten eher als sie zu einigen. Sie sind weder sachlich noch emotional Fleisch vom Fleische der alten sozialdemokratischen Vision, auch wenn sich Verbindungslinien zu den Grundwerten der Partei ziehen lassen. Das Profil der Partei zerfällt. Dagegen könnte nur politische Treue zum gefundenen Konsens helfen. Die Kräfte, die gegen sie wirken, haben aber die Oberhand gewonnen: eigenständige Interessen von Landespolitikern und Profilierungsregeln der Mediengesellschaft.

Das zieht den einen politischen Grund der Misere ins Blickfeld. Die Logik der Mediengesellschaft scheint neben sich nichts mehr zu dulden. Die Massenmedien leben vom Unterhaltungswert ihrer Nachrichten. Dem Sog, den solide Inszenierungen erzeugen, entzieht sich auf die Dauer keines der Medien. Viele Spitzenpolitiker können nur schwer der Versuchung widerstehen, sich gegen die eigene Partei zu profilieren, um dann, so die Hoffnung, wenn man ins Medienstarsystem aufgenommen ist, von der Partei wieder gerufen zu werden. Diese Versuchung wird wirksam bleiben, auch wenn der SPD-Vorsitzende nicht Scharping heißt. Der Unterhaltungswert der Politiker aber ist ein Artikel mit unbekanntem Verfallsdatum.

Der zweite politische Grund trifft die SPD ins Mark. Programme galten auch für sie nie zum Nennwert. Aber sie gaben ihr und denen, die auf sie schauten, Orientierung, Integrationskraft und ein moralisches Feuer. Die praktischen Schritte waren immer zu klein, gemessen an den Zielen und Hoffnungen. Aber sie hielten das Versprechen der Ziele und Grundwerte wach. Vom Programm der SPD, 1989 nach fünfjähriger Mobilisierung von Phantasie und Gesprächsfähigkeit, gesellschaftlichen Dialogen und innerparteilichem Verständigungswillen verabschiedet, redet nicht einmal mehr die Partei. Die Öffentlichkeit weiß nichts davon. Es enthält politische Projekte, die einen Weg weisen und die Schritte benennen, die heute und morgen zu gehen wären.

Eines dieser Projekte ist eine langfristig angelegte ökologische Steuerreform. Sie ist einfach und verständlich. Sie würde die Umwelt entlasten, Energie sparen und Arbeitsplätze sichern. Ein anderes Projekt ist eine zweite Bildungsreform. Sie würde individuelle Berufschancen verbessern, Wirtschaftserfolge wahrscheinlich machen, die Orientierung des einzelnen in einer schwer überschaubaren Welt stärken, die Generationen einander näherbringen.

Von all dem ist in der Medienkommunikation kaum noch die Rede. Die Partei selbst starrt auf die täglich erneuerten Medienrituale wie das Kaninchen auf die Schlange. Programme und Projekte werden auf eigenartige Weise virtualisiert. Das kann einer Programmpartei nicht gut bekommen. Dagegen könnte nur die beharrliche Werbung für zwei bis drei politische Projekte helfen. Solche Projekte überfordern weder die Wähler noch die Medien.

Die SPD-Führung wäre gut beraten, die 23 Prozent von Berlin als eine letzte Warnung ernst zu nehmen. Sonst könnten solche Zahlen zur Gewohnheit werden. Thomas Meyer