Unterwanderungsmotive

■ "Ich breche hier einfach ab ..." - Karsten Witte, Filmwissenschaftler, Kritiker, Dichter und Kracauer-Herausgeber, starb am Dienstag abend in Berlin

Die Filmwissenschaft in Berlin ist, dem noch immer zweifelhaften Ruf des Kinos entsprechend, schamhaft an die Theaterwissenschaften angedockt. Dem Kino- Passionario muß das eine stete Kränkung sein, die durch überfüllte Seminare nur begrenzt wettgemacht wird. Karsten Witte, der vor einigen Jahren dort die wohlverdiente Professur antrat, hatte sich gegen all die Zumutungen, die diese Konstruktion mit sich brachte, einen ans Aristokratische reichenden Habitus zugelegt. Er sprach leise, dezidiert, manchmal wie zu sich selbst. Trug Westen, ging kerzengerade, schaute durch Monokelartiges. An sehr vielen Formulierungen war intensiv geschraubt worden. Deshalb brauchte man als Student eine Zeitlang, um dahinterzukommen, daß sein Zugang zum Kino bar jeder Prätention war. Das hing nicht zuletzt mit seinem großen Leitbild Siegfried Kracauer zusammen, dessen Texte in Deutschland sorgfältig ediert zu haben Wittes unschätzbarer Verdienst ist.

Kracauer hatte für das Kino gefordert, was seine Kollegen von der Abstraktionsfront erschauern ließ: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Als die einzige Kunstform, die ihr Rohmaterial nicht verändert, sollte die Chance des Films darin liegen, „das Zittern der vom Wind erregten Blätter“ zu zeigen. Für diese Haltung ist er natürlich ebenso heftig attackiert worden wie für die früher formulierte Vorstellung vom Filmkritiker, der „nur als Gesellschaftskritiker denkbar“ sei. Damit war bekanntermaßen – und Witte wäre der letzte, der es so ausgelegt hätte – nicht ein Verzicht auf ästhetische Reflektion verbunden, sondern der Versuch, das eine durch das andere hindurchscheinen zu lassen. Die Erfahrung des Exils, die Kracauer zu der Formulierung von der „Errettung“ getrieben haben mag, hat Witte durch Auslandsaufenthalte zumindest zu erforschen, wenn nicht nachzuerleben versucht.

Geboren im letzten Kriegsjahr 1944 in Perleberg in der Mark Brandenburg, studierte er Romanistik in Berlin und Göttingen, dann aber Vergleichende Literaturwissenschaften in Chapel Hill und Aix-en-Provence. Die Komparatistik ist auch in der Filmbeschreibung, der akademischen wie der feuilletonistischen, immer Wittes Standbein gewesen. Seine Filmkritiken in der Frankfurter Rundschau und der Zeit bezogen ihre Impulse aus Malerei, Fotografie und vor allem der Literatur – kein Wunder, daß ihm Pasolini oder Ozu besonders nah waren. Der Clou womöglich des Witteschen ×uvres könnte sein Sprung in die Höhle des Löwen gewesen sein: „Lachende Erben, toller Tag“ hieß sein letztes, im Berliner Vorweg-8- Verlag erschienenes Buch, in dem Witte sich mit der Filmkomödie im Dritten Reich beschäftigt. Jede Form ideologischer Quarantäne – nicht anfassen! Propaganda! – weit hinter sich lassend, untersucht Witte, wie sich Theo Lingens „Was geschah in dieser Nacht“ (1941) zu Frank Capras „It Happened One Night“ (1933) verhielt. Natürlich entdeckt er Ähnlichkeiten, ebenso wie zwischen dem Arbeiterfilm der Zwanziger Jahre und Schlüsselwerken der Nazizeit. „Ob sichtbar, ob subkutan“, schrieb Witte, „Propaganda muß mit Hergebrachtem rechnen, was sich augenfällig in den Übergangsperioden zeigen läßt. Das Produktionsjahr 1933 war ein transitäres Jahr, der ,Hitlerjunge Quex‘ zehrt ästhetisch von den Filmen der linken Weimarer Tradition; das Jahr 1944 ist eine andere Transitstation, in der sich Unterwanderungsmotive zur ästhetischen Opposition verdichten.“

Privat ist er in seinen Kritiken nicht geworden, erst in seinen Gedichten konnte man ein wenig erfahren, aus welcher inneren Disposition seine Texte entstanden. Wer ihn von früher kannte, war überrascht, etwas zu lesen wie „Am Ende bist du/ ein Stück Seife/ das den Dreck der andern ablöst“.

In den letzten Monaten, als ihn die Folgen seiner Aids-Infektion immer mehr einschränkten, war von der splendid isolation, in der er sich früher manchmal zu bewegen schien, nicht mehr viel zu spüren. Freunde waren um ihn, und man wußte plötzlich ganz genau, warum es so viele waren. Mariam Niroumand