■ Gewerkschaftstag der IG Medien
: Die Jagd nach der verlorenen Realität

Es begann mit einer heilsamen Fehlerdiskussion über Realtitätsverlust und gegenseitig erteilten Lehren. Für den Vorsitzenden ist die Zeit vorbei, die richtige Linie nur zu verkünden. Die Delegierten mußten begreifen, daß ein Vorsitzender nicht nur ein Reflex ihrer selbst zu sein hat. Die Reform ist mit Autoritarismus sowenig vereinbar wie mit der Heilserwartung von oben. Sich einzulassen auf offene Verhältnisse und gleichberechtigte Beziehungen, haben beide Schwierigkeiten. Bei den Wahlen entschied man sich noch einmal für Hierarchie, Zucht und Ordnung.

Der Gewerkschaftstag zeigte, daß nun der alte Kern der Druckergewerkschaft seine Substanz verloren hat und zerfällt. Die alten Mittel und Methoden sind kraftlos und, obwohl laut beschworen, das Feindbild ist es auch. Die soziale Zersetzung schmerzt tief. Sie ist aber so weit fortgeschritten, daß es nicht mehr zu „geschlossenem“ Widerstand reicht. Die Blockade bekommt Löcher. Übrig bleiben die unterschiedlichsten Segmente. Die einstigen Leidenschaften flammen kurz auf, bieten sich Haltegriffe dazu. Neudenken gilt einigen unbelehrbar als Anpassung. Man klammert sich an Satzungsbestimmungen. „Modernisten“ wollen manchmal nicht mehr als bloß die Plätze der „Traditionalisten“. Es fehlt das Gespür, daß unterschiedlichste Bedürfnisse ihren Platz in der Gewerkschaft haben können und müssen. Ideen zum Wandel, zur Partizipation und Integration des Alten fehlen. Doch neue soziale Bezugsgruppen gewinnen Kontur. Die Gewerkschaft hat vergleichsweise ratio-

nal die Reform erst mal des eigenen Ladens eingeleitet.

In Ecken und Winkeln des Gewerkschaftstages schimmerte unausgesprochen durch, was bevorsteht, um die Realität wieder einzuholen: Seit je wird produziert, einen Mehrwert zu erzielen, der Reichtum ermöglicht. Ohne Markt ist kaum auszukommen, und „den“ Kapitalismus gibt es nicht. Nicht in diesen Dingen als solchen liegt das Problem, sondern in ihrer differenzierten und komplexen politischen Gestaltung im Interesse der Individuen und der Gesellschaft. Deren Ausfall bedingt die heutige bloße Ökonomisierung aller Probleme. Die IG Medien hat die positiven Potentiale, die im Ende der „Arbeitsgesellschaft“, des Kommunikationszeitalters und der Individualisierung liegen, noch nicht richtig begriffen. Sie weiß deshalb auch deren regressiven Rückseiten noch keine wirkliche Alternative entgegenzusetzen. Mechtild Jansen