■ Der kroatische Präsident Franjo Tudjman feiert seinen Machtrausch. Er verliert zunehmend jedes Augenmaß
: Vom Triumph in den Sumpf

Im Eiltempo entfernt sich Kroatien von der Demokratie, das heißt von den modernen demokratischen Standards westlicher Prägung. Denn selbstverständlich ist es die Demokratie selbst, die das Blühen dieser abweichenden Form ermöglicht. Am Anfang waren die mit modernem europäischem Demokratieverständnis zu vereinbarenden Standards in Kroatien teils gesetzt, teils postuliert. In den Kriegsjahren allerdings kritisierten die meisten oppositionellen Parteien die Praxis der regierenden Partei (HDZ), den Krieg als Vorwand für die mangelnde Entwicklung von demokratischen Institutionen und Prozeduren vorzuschieben. Obwohl die meisten Einwände der oppositionellen Politiker oder der kritischen Öffentlichkeit zu Recht erhoben wurden, bleibt das Faktum, daß der Zustand der Demokratie bei einem angegriffenen Land weniger ins Gewicht fällt als die Aggression sowie die Priorität, das Land zu verteidigen.

Nun ist der Bestand des Staates gesichert, und das Verdienst des kroatischen Präsidenten ist dabei nicht in Frage zu stellen. Daß man aus diesem Erfolg durch die vorgezogenen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag so schnell Kapital schlagen will, kann man geschmacklos finden, aber nicht ernsthaft anprangern. Entsprächen diese Wahlen den demokratischen Standards, könnte man den zu erwartenden Sieg der HDZ als normal ansehen. Doch die Art und Weise, wie Tudjman seiner Partei einen überwältigenden Sieg im voraus sichern will, kann diesen nicht mehr als logische Folge der militärischen Erfolge der regierenden Garnitur erscheinen lassen.

Alles, was im Zusammenhang mit diesen Wahlen steht, spricht den demokratischen Prozeduren und Gepflogenheiten eines Rechtsstaates hohn – angefangen bei dem schnell fabrizierten Wahlgesetz, das die Wahlbezirke neu zugeschnitten und höhere Hürden für kleinere Parteien eingeführt hat (fünf und elf Prozent für Wahlbündnisse) und im Parlament mit einfacher Mehrheit (!) verabschiedet wurde. In der kroatischen Verfassung steht, daß das Parlament eine Körperschaft der Vertreter der Bürger „in der Republik Kroatien“ ist. Doch die einfachste demokratische Begrifflichkeit, wer nämlich diese Bürger sind, scheint in der eigentümlichen kroatischen Demokratie nicht klar zu sein.

Man müßte eigentlich annehmen, daß sich die Zahl der wahlberechtigten Bürger Kroatiens durch den Exodus der Serben verringert hat und aufgrund dieses Umstandes Vorkehrungen getroffen sein sollten, die den Serben, so sie zurückkehren, eine nachträgliche Wahlmöglichkeit ihrer durch die Verfassung garantierten Vertreter im Parlament einräumen. Aber mitnichten. Die Zahl der kroatischen Wahlberechtigten hat sich wundersam vermehrt, obwohl man nicht weiß, um welche Zahl.

Geschehen ist dies folgendermaßen: 1. Die Kroaten aus dem benachbarten Bosnien-Herzegowina erhalten die Staatsbürgerschaft der Republik Kroatien, da blöderweise beide Republiken die Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft einräumen. 2. Als wahlberechtigt zählen auch die Auslandskroaten. Bei den letzten Wahlen waren nur diejenigen im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt, die noch ihren Wohnsitz in Kroatien beibehalten hatten. Dieses einzig einsehbare Prinzip ließen die Rechtsjongleure nicht mehr gelten, denn ihm zufolge konnten natürlich die bosnischen Kroaten nicht wahlberechtigt sein. Diese kurvenreichen Regelungen zielen nämlich 3. schnurgerade auf das Einhamstern der Stimmen von bosnischen Kroaten, genaugenommen Herzegowinern.

Das verlangte von den Gesetzschreibern von Tudjmans Gnaden, das Mirakel zu vollbringen, das mit beiden anderen gleichberechtigte, „konstitutive“ Staatsvolk der Kroaten in Bosnien-Herzegowina zur „kroatischen Diaspora“ zu machen. In diesem ganzen Widersinn bemühte sich plötzlich der kroatische Außenminister Granić um eine absurde Konsistenz und gab den Botschaftern in den westlichen Ländern die Anweisung, nur jene Auslandskroaten, die keinen Wohnsitz in Kroatien haben, sprich die herzegowininsche Diaspora, wählen zu lassen. Über 30 Wahllokale in Bosnien-Herzegowina und die Botschaften des kroatischen Staates in der Welt stehen also zur Abgabe der Stimmen für Tudjmans Kandidaten für die zwölf Parlamentsmandate der „kroatischen Diaspora“ zur Verfügung. So macht man aus der Republik Kroatien Herzegonien und unterwandert in einem Zug den Nachbarstaat.

Natürlich toben die oppositionellen Politiker und die empörte kritische Öffentlichkeit angesichts solch skandalösen Machtmißbrauchs. Doch ziemlich vergeblich, denn die Mehrheit der Gesellschaft Kroatiens erfährt kaum etwas von den berechtigten Vorwürfen und besorgten Mahnungen gegen den gefährlichen Hegemonialismus. Tudjman feiert nämlich seinen Machtrausch zusammen mit den kroatischen Fernsehzuschauern via staatliche Fernsehanstalt, die ein parteieigener Sender geworden ist. In ihm wird den oppositionellen Parteien gnädig ein Bruchteil der Sendezeit überlassen, in der sie auch noch restriktiven Richtlinien unterworfen sind.

Mag sein, daß diese Geschmacklosigkeiten viele Menschen anwidern, doch die meisten sind – die einmalige Bedeutung der Wiedererlangung vom kroatischen Staatsterritorium vor Augen – bereit, darüber hinwegzusehen. Die große Öffentlichkeit Kroatiens ist geprägt durch den grassierenden Mangel an Zivilcourage von Menschen, die dann in Privatgesprächen jammern. Zuletzt ist auch das Verfassungsgericht umgekippt, das nicht einmal die erteilte Berechtigung für die Bürger eines Nachbarstaates, das Repräsentantenhaus Kroatiens mit zu wählen, als verfassungswidrig einräumte.

Präsident Tudjman scheint zunehmend jedes Augenmaß zu verlieren. Wer in Eigenmächtigkeit schwelgt, verliert vor allem den Sinn für die Zeit, die Vergänglichkeit des Ruhms. Für die Elogen der Speichellecker, die unter einem Diktat stehen, ist charakteristisch, daß sie verstummen, sobald das Diktat weg ist. Spätestens dann wird die Zeit einer Präsidentschaft nicht nur unter dem Vorzeichen der kroatischen Eigenstaatlichkeit und der Wiedererlangung des okkupierten Territoriums stehen. Dann wird nicht geflissentlich übersehen, daß es die Zeit der Gängelung der Demokratie, der Aushöhlung des Rechtsstaates, der heimtückischen Unterwanderung des Nachbarstaats war. Und auch eine Zeit, in der hilflose alte Menschen in den verlassenen, ehemals serbischen Gegenden umgebracht wurden. Dunja Melcić