Die Stimmen der Wütenden

■ Epos einer verlorenen Generation: Nanni Balestrinis Roman über Gewalt und Sehnsucht der Mailänder Fußballfans

Kein Punkt, kein Komma strukturiert den mitreißenden Redefluß dieses Buches. Alles vermischt sich zu einem Gewirr der Stimmen, die über Fußball, Drogen und die Choreographie der Fankurven sprechen, über die Fahrten zu Auswärtsspielen, die Abenteuer an den Spieltagen und die Sehnsucht nach einem Miteinander.

Das Ausgangsmaterial dieses Romans, und es ist wirklich einer, sind Interviews mit Fußballfans, Ultras der rotschwarzen Brigaden des AC Mailand. Doch Nanni Balestrini betreibt nicht oral history, er ist weder Historiker noch Ethnologe oder Soziologe, und er macht nicht einmal kenntlich, wer gerade spricht. Der Autor bestimmt den Rhythmus der Stimmen, läßt sie ineinanderlaufen, sich überlagern, sich widersprechen. Balestrini montiert virtuos die Erzählungen der Ultras von blutigen Schlägereien, von Überfällen auf Autobahnraststätten, Drogenexzessen in stinkenden Sonderzügen, Polizeibrutalität und dem Rausch eigener Gewalt. So entstehen elf „Gesänge“, die zusammen das Epos einer lost generation italienischer Fankurven ergeben.

Ein „Epos mit komischen Elementen“ nennt Balestrini selbst „I Furiosi“. Er greift bewußt parodierend die Form der Homerischen „Ilias“ auf. Die Erzählungen der Ultras in „I Furiosi“ leben von drastisch-komischen Übertreibungen. Aus zwei Ohrfeigen wird im Laufe der Jahre und immer neuen Erzählens eine Massenschlägerei, ein kleiner Ladendiebstahl verwandelt sich in eine Plünderung. Das Buch hat in Italien, wo es ein Verkaufserfolg war, eine heftige Diskussion ausgelöst und dem Autor den Vorwurf eingetragen, mit der Gewalt zu flirten. Denn wie es in der Sache liegt, gibt es in „I Furiosi“ Stimmen, die vom Reiz der Gewalt sprechen: „In solchen Augenblicken ist alles erlaubt alles geht und am nächsten Tag gehts dir manchmal schlecht wenn du daran denkst was du getan hast aber in dem Moment ist das eine Wahnsinnsaufregung.“ Daraus eine Komplizenschaft des Autors mit seinen Protagonisten ableiten zu wollen, ist zwar falsch, aber Balestrini, das legt schon sein Verfahren nahe, hat auch nicht die Absicht, Orientierung zu geben oder Trost zu spenden. Er läßt den Leser mit den Stimmen von den Rändern der Städte allein zurück.

„Mir gefällt die Gewalt vielleicht, weil ich da mittendrin geboren wurde“, sagt eine weitere Stimme. Die Gewalt ist in den Mailänder Vororten, in den Erziehungsanstalten und Knästen einfach da. Für Balestrini muß sie nicht noch zusätzlich motiviert werden. Und er erliegt nicht der Versuchung, der Gewalt der Verlierer einen politischen Sinn geben zu wollen. „Von heute aus betrachtet kann man sagen daß das Stadion für uns ein wenig das Training für die Guerilla war um sie dann später '77 in die Stadt zu tragen“, hören wir eine Stimme. Doch diese Stimme, vielleicht ist es aber auch schon wieder eine andere, erzählt auch vom Ende der Politisierung, von der Kriminalisierung der Autonomen, von den Drogenproblemen, von Punk und der Rückkehr ins Stadion: „Das Spiel war schön da waren ne Menge Leute alle haben geraucht geschrien ich war da an der Seite der Kurve und schaute geblendet zu ich sagte mir schau mal was für ein schönes Fest welch schöne Weise zusammen zu sein was für ein schönes Fest.“ Doch das wirkliche Fest erfüllt sich für die Ultras, deren Stimmen Balestrini hörbar macht, nicht im Gruppenerlebnis der Kurve, sondern in den Ausbrüchen der Gewalt: „Die Gewalt vom Stadion ist mehr eine Droge als es die politische war die vom Stadion hat kein Ziel sie ist reiner Selbstzweck während in der Politik hattest du eins wenn du den Arbeitgeberverband angegriffen hast hatte es einen Zweck das war ein politisches Ziel du hast den Geruch von Tränengas gerochen und wußtest wo du warst und was du machtest und warum du es machtest während die Gewalt vom Stadion keine Ziele hat es ist die reine Gewalt du hast in dem Moment keine Ziele es gbt zwei entgegengesetzte Gruppen die sich im Namen von Nichts bekämpfen.“

Dieses „Nichts“ haben schon andere beschrieben, Colin Ward

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Fortsetzung

1989 in seiner Hooligan-Autobiographie „Steaming In“ und der amerikanische Autor Bill Buford ein Jahr später in „Among the thugs“ (deutscher Titel: „Geil auf Gewalt“). Doch dies blieben Sachbücher, während Balestrini aus seinem Material Literatur schafft. Daß er dabei die Spannung zwischen der Hitze der gesprochenen Worte und der Kälte des montierten Protokolls zu halten vermag, ist die besondere Qualität von „I Furiosi“. Das gelingt ihm wahrscheinlich deshalb so gut, weil sein Interesse weniger dem Fußball als Literatur und Politik gilt. Und so schließt „I Furiosi“ an seine drei vorangegangenen Romane an. „Wir wollen alles“ dokumentierte 1971 den Kampf von Fiat-Arbeitern, „Die Unsichtbaren“ 1987 das Verschwinden einer Generation politisch Militanter in den Gefängnissen und „Der Verleger“ 1989 den ungeklärten Todesfall des Verlegers Feltrinelli, der, durch eine Explosion getötet, an einem Strommast in der Nähe Mailands gefunden wurde. Balestrini hatte übrigens in den 60er Jahren bei Feltrinelli gearbeitet. Stets ging es im Werk wie auch im Leben des heute 60jährigen Autors um radikale Opposition und um die Kombination von Linksradikalität und literarischer Avantgarde. Er war als Lyriker in den Dichtergruppen „Novissimi“ und „Gruppe 63“ an der Geburt der „Neoavantgardia“ in Italien beteiligt. 1979 wurden ihm die Mitgliedschaft in einer subversiven Vereinigung und damit pauschal 19 Morde zur Last gelegt. Bis das Verfahren 1984 aufgehoben wurde, lebte er im Exil in Paris.

Wenn man „I Furiosi“ in die Reihe seiner vorangegangenen Romane stellt, ist Balestrinis aktuelle Erkundung eine der Militanz im Zeichen der Leere. Unverkennbar ist dieses Unternehmen von Sympathie angetrieben. Durch seine literarische Bearbeitung gewinnt die derbe Alltagssprache der Ultras auch in schriftlicher Form Kraft. Und Balestrinis Versuch, aus dem Gewirr der Stimmen ein kollektives Subjekt aufstehen zu lassen, weist darauf hin, daß er verstanden hat, daß gerade das Fußballstadion der Ort ist, wo sich die Sehnsucht danach auch heute noch artikuliert. Christoph Biermann

Nanni Balestrini: „I Furiosi. Die Wütenden“. Aus dem Italienischen von Dario Azzellini, Edition ID-Archiv, 141 Seiten, 26 DM.