■ Überall wird ein Verlust an Werten und Gemeinsinn beklagt. Wer aber leidet unter dem Verlust welcher Werte?
: Verlogenes aus dem Freizeitpark

Rechte wie Linke beklagen den Verfall von Solidarität und Sozialverhalten, Vereinzelung und mangelnder Bezogenheit. Wenn die Kids cool „no future“ murmeln, einer nicht arbeiten will oder entwurzelt ist, heißt es gleich: Werteverlust. Wenn Gefühle von Leere und Sinnlosigkeit und die Suche nach emotionalen Kicks das Freizeiterleben der Deutschen bestimmen: Orientierungslosigkeit. Wenn immer mehr Single-Haushalte und Scheidungen die Statistiken dominieren, Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft angeblich dahin sind: Fehlen von Eingebundenheit. Und wenn alle nur an das eine denken, nämlich an sich selbst: Zeitalter des Narzißmus.

Hier nun endet die neudeutsche Harmonie und macht unterschiedlichen Schlachtrufen Platz: Die Familie (sprich „Famillje“), so ist von konservativer Seite zu vernehmen, müsse wieder Werte vermitteln und den Mittelpunkt des sozialen Lebens darstellen. Der Ordnungsruf der Kanzlermutter „So was tut man nicht!“ müsse, so ihr Filius neulich gegenüber seinen Jungunionisten, wieder modern werden. Wo Aufrufe zu mehr Moral und Werten mit dem Wörtchen „wieder“ auftreten, muß man mißtrauisch werden. Wohin, bitte, soll es gehen?

„Wieder“ lernen oder „wieder“ rückbesinnen sollen wir uns, so auf der anderen Seite Spiritualisten ökologischer Couleur, „natürliche“ Lebensweisen oder Einheiten von Geist und Seele „wieder“ entdecken. Unterstellt wird – so ganz nebenbei –, daß es diese Erlebnisformen vormals mit aller Selbstverständlichkeit gegeben habe: Früher war's besser. „Natürlich“ und „wieder“ erscheinen als Koordinaten der Werte, die reformerische Schritte in die Zukunft flugs zur Rolle rückwärts werden lassen könnten. Daß es aber dortselbst, wo wir „wieder“ hin sollen, so heimelig gewesen sein soll, steht zu bezweifeln.

Die Jahre, in denen des Kanzlers Mutter mit fraglichem Erfolg „So was tut man nicht!“ ausrief, waren jedenfalls durch Mief und Enge der Nachkriegsjahre und nachfolgende Befreiungsversuche der Studentenbewegung geprägt. Emanzipation und Selbstverwirklichung riefen mitnichten zu Ich- Versessenheit, zu Ellbogenmentalität oder Nabelschau auf. Sie bedeuteten vielmehr die Befreiung von Altnazis und antidemokratischen Strukturen, schufen Aufbruchstimmung für die Anfänge der sozialliberalen Koalition, machten Schluß mit der Doppelmoral der Nierentische, ermutigten zu mehr Eigenverantwortung und Initiative. Bürgerinitiativen, Alten- und Jugendhilfen, Stadtteilläden und Ausländersolidarität, Kinderläden und Kirchengruppen von unten, Dritte-Welt-Projekte oder Car-Sharing-Initiativen, lokale Greenpeace-, Robin-Wood- und andere Gruppen, kurz, all die bunten und vielfältigen Initiativen gehen also in die Bestandsaufnahme offenbar nicht ein. Könnte es sein, daß diese Art Gemeinsinn vielleicht gar nicht gemeint ist, wenn es um die alten Werte geht?

Daß dazumal soziale Werte und Gemeinsinn so außerordentlich hoch im Kurs standen, ist – mit Verlaub – zynisch angesichts des nationalsozialistischen Erbes und der Art der Vergangenheitsüberwältigung, die gestandenen Nazis allerorten Tür und Tor für neue Ämter und Würden offenhielt. Geht es also nicht viel eher um jene Form lästiger Ruhestörung, die keineswegs hehre Werte auflöste, sondern umgekehrt ihr Fehlen beklagte – eine Ruhestörung, die das Ärgernis ist, das abzustellen sich Konservative nunmehr anschicken? Eine Ruhestörung, die einsetzt, wenn Diätenerhöhungen mittels beispielloser Skrupellosigkeit gegenüber verfassungsrechtlichen Bedenken am Bürger vorbeigeschrubbt werden sollen. Wo genau ist hier der Verlust an Werten und Gemeinsinn zu orten?

Ist aber die angebliche Zunahme an Gewalt und Verbrechen nicht wenigstens Zeichen jenes Werteverlustes, der hier zur Debatte steht? Was der Bundesinnenminister immer wieder kantig vorträgt, entbehrt jeder statistischen Grundlage, wie Kriminologen und hohe Polizeibeamte bestätigen (wenn sie denn gefragt werden oder antworten dürfen). Insgesamt ist die Gewaltkriminalität seit langem rückläufig. Allerdings führt Armut bei jungen Menschen immer häufiger zu Straftaten – offenbar weil bestimmte Werte und Konsumgüter akzeptiert, aber auf legalem Wege unerreichbar erscheinen. Kein Werteverlust also, eher Scham über die Unerreichbarkeit eigentlich mitgetragener bürgerlicher Ideale, gekränkte Ehrgefühle angesichts unerreichbarer Träume von einem „normalen“ Leben.

Und das verweist auf die gegenwärtige Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Hier erst vermag ich jenen Verlust an Werten und Orientierung, an sozialem Mitgefühl und Perspektiven auszumachen. Wo bleibt der eingeklagte Gemeinschaftssinn, das soziale Miteinander, das Gefühl für Familie oder Recht und Unrecht, wenn Ausländerfamilien wegen geltender Rechtsprechung auseinandergerissen, wenn immer mehr Menschen in sozialer Verelendung mit dem schnöden Achselzucken spitzenverdienender Christ- und Sozialdemokraten im Regen stehen gelassen werden? Man möge den Bürger doch bitte schön mit dem moralischen Zeigefinger verschonen, der mit grobschlächtigem Tremor auf vorgebliche Splitter im Auge mündiger Staatsbürger verweist. Wie verhält es sich mit Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft, wenn Begrifflichkeiten wie „Durchrassung“ und „Überfremdung“ als bayerische Diskussionsbeiträge zur Integration von ausländischen Mitbürgern vom ausgezeichneten moralischen Niveau der Diskutanten zeugen? Wer also leidet hier unter Werteverlust, und wessen Narzißmus ist zu beklagen?

Fatal beginnen die Dinge zu werden, wenn Linke und Ökologisten in das Klagelied mit einstimmen, wenn auch aus anderem Grunde. Angesichts düsterer Zukunftsperspektiven mag es verlockend erscheinen, frühere Zeiten und Kulturen zu idealisieren oder gelegentlich vom verlorenen Paradies zu träumen. Hilfreicher wäre wohl die Entwicklung zukunftsweisender Utopien, statt sich allzu schnell, wenn auch unbewußt, in konservative Denkschablonen einzuklinken. Die Werte und Vorstellungen, der Gemeinsinn und die Solidarität, die wir meinen, liegen vor uns, nicht in alten Zeiten. Die beklagte Krankheit ist bei jenen zu beklagen, die von Freizeitparks reden, weil ihnen ehrenamtliche und von innerer Überzeugung getragene Solidarität, eigenverantwortliches Engagement und Gemeinsinn so unheimlich und innerlich fremd sind, daß sie Eigenes bei anderen orten: Werteverlust. Micha Hilgers