Allen Zweifeln zum Trotz: Obrigheim forever

■ Stuttgarter Umweltminister Schäfer bestätigt seinen Ruf als atomkritisches Weichei und läßt den ältesten kommerziellen Reaktor wieder anfahren

Berlin (taz) – Ausgestattet mit einem Persilschein erster Klasse ist der Risikomeiler Obrigheim (KWO) seit gestern wieder am Netz. Der baden-württembergische Umweltminister und bekennende Atomkraftgegner Harald B. Schäfer (SPD) erklärte am Morgen die Möglichkeit eines „spröden Versagens“ des Reaktordruckbehälters „nach heutigem menschlichem Erkenntnisvermögen“ bis zum Ende der Betriebszeit für „praktisch ausgeschlossen“.

Die KWO-Geschäftsleitung bejubelte die Entscheidung umgehend mit der Ankündigung, nun werde der Mitte der sechziger Jahre errichtete Altmeiler 30 Kilometer östlich von Heidelberg „mindestens bis zum Jahr 2010 Strom erzeugen“. Am Nachmittag wurde der Druckwasserreaktor hochgefahren.

Nach jahrelanger Unsicherheit über das Ausmaß der Versprödung der zentralen Schweißnaht des Druckgefäßes versicherte Schäfer: „Die Entscheidung war zum Schluß nicht mehr schwierig.“ Das 27 Jahre alte Kraftwerk berge über das vom Atomgesetz akzeptierte Restrisiko hinaus „keine erhöhte Sicherheitsgefahr“ und sei nicht gefährlicher als andere deutsche Atomkraftwerke älterer Bauart.

Überschwenglich und fast wortgleich mit den KWO-Betreibern lobte Schäfer die von ihm in Gang gesetzte „vorbildliche“ Durchleuchtung des Druckbehälters. Daran mitgewirkt hatten mehr als ein halbes Dutzend Gutachterorganisationen. Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) stützte Schäfers Kurs mit von ihr veranlaßten Stellungnahmen der notorisch atomkraftfreundlichen Reaktorsicherheitskommission und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit.

Als atomkritische Gutachter durften die Reaktorfachleute des Darmstädter Öko-Instituts an der Wahrheitsfindung mitwirken. Die sind von der Sicherheit der zentralen Schweißnaht des Reaktordruckbehälters keinesfalls so überzeugt wie ihre Auftraggeber. Projektleiter Lothar Hahn verlangte gestern erneut die Ermittlung der entscheidenden „Sprödbruch- Übergangstemperatur“ nach US- amerikanischen Regelwerken. Eine solche Rechnung haben zwar inzwischen auf Veranlassung Schäfers und der KWO-Betreiber Sachverständige das Oak Ridge National Laboratory (ORNL) durchgeführt, jedoch auch auf Basis jener Proben, die das Öko-Institut und die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin weiter als „nicht repräsentativ“ einstufen.

Die öffentliche Demontage der kritischen Gutachter überließ Minister Schäfer gestern seinem juristischen Berater, dem Freiburger Anwalt und früheren Atomkraftgegner Siegfried de Witt. Der erklärte, es sei „nicht erkennbar, daß die Gutachter des Öko-Instituts gegenüber den Gutachtern des ORNL über eine überlegene Sachkunde ... verfügen“. Folglich könne man die Abschätzungen des Öko- Instituts vergessen. „Was nützt die Herbeiziehung eines alternativen Gutachters, wenn dessen Ergebnisse dann einfach beiseite gewischt werden?“ echauffierte sich daraufhin der bündnisgrüne Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Fritz Kuhn.

Die Grünen werfen Schäfer vor, Obrigheim einen „Sicherheitsrabatt“ zu gewähren. Letztlich würden jedoch wegen der undurchsichtigen Genehmigungsgeschichte die Gerichte über das Schicksal des 357-Megawatt-Meilers entscheiden, der nach 27 Jahren immer noch im Probebetrieb läuft. Nach den Landtagswahlen im März 1996 kann sich Kuhn eine rot-grüne Koalition nach der gestrigen Entscheidung „allerhöchstens trotz Schäfer“ vorstellen. Gerd Rosenkranz