Im Nimmerland

■ Fernsehen, das "Spiel mit Grenzen": Am wenigsten lassen sich ausgerechnet seine "Qualitätsprodukte" europäisieren

Erinnern Sie sich noch an EWG? An jenes Ratequiz „Einer wird gewinnen“, wo einen Abend lang acht Europäer die Erfüllung des Traums von einem friedlichen Europa spielten? Oder an „Spiel ohne Grenzen“? Jener schmierseifebewährte TV-Wettkampf, der den Europagedanken schon im Namen führte? Es verwundert, daß die Fernsehunterhaltung ausgerechnet in einer Zeit, in der Europa politisch und ökonomisch immer weiter zusammenwächst, auf ihre multinationalen Klassiker praktisch völlig verzichtet.

Kaum je erklingt noch die Eurovisionshymne, die uns daeinst den Zusammenschluß länderübergreifender Sehgemeinschaften signalisierte. Immer ferner, so scheint es jedenfalls, rückt auf dem europäischen Fernsehmarkt die Vision des „globalen Dorfes“. Und das in einer Zeit, in der die Satellitenübertragung die Vernetzung der nationalen TV-Gemeinschaften unproblematischer erscheinen läßt als je zuvor.

Das Adolf-Grimme-Institut hatte am vergangenen Wochenende zu einer zweitägigen Fachtagung nach Marl geladen, um über die Europäisierung des Fernsehens zu debattieren. Und mit gutem Grund nannte man die Veranstaltung „Spiel mit Grenzen“. Denn tatsächlich, so jedenfalls der Medienwissenschaftler Uwe Hasebrink vom Hamburger Hans- Bredow-Institut, nutzen die Europäer überall am liebsten die nationalen TV-Angebote. Trotz vieler struktureller Gemeinsamkeiten verbindet uns offenbar vor allem die Neigung, „den Nachbarn den Rücken zu kehren und in das eigene Programm zu schauen“.

Andererseits, das wiederum machte der Medienpsychologe Georg Stark vom Kölner Steinweg-Institut deutlich, hat sich seit der Einführung des kommerziellen Fernsehens durchaus eine globale Zuschauergemeinschaft entwickelt, die sich fast in allen europäischen Staaten von dem US-Spielshowformat „The Price is right“ begeistern läßt. Wie Stark plausibel herleitete, bedient sich seine Dramaturgie einer jahrtausende alten menschlichen „Faszination an der Verwandlung“. Gleichsam wie die Fabelfigur Peter Pan durch das offengelassene Fenster in unsere Welt eindringt, uns mit Goldstaub verzaubert und ins ferne Nimmerland entführt, besucht auch der Moderator von „Der Preis ist heiß“ (in Deutschland heißt der Pan Harry Wijnvoord) allabendlich via Bildschirm die Wohnstuben zwischen Lissabon und Norderstedt und holt uns ab zu einem Ausflug in das zauberhafte TV-Nimmerland, in dem man alle Alltagssorgen vergessen kann. Wo das Glück lockt und der Reichtum greifbar nah ist.

Es sei keiner technischen Notwendigkeit, sondern der Ikonographie der Märchenwelt geschuldet, daß die Moderatoren der Show ein Stabmikrophon in den Händen halten, erklärte Stark. Denn überall in der Welt sei dieser Gegenstand als der Zauberstab des Pan dechiffrierbar. Die Aufgabe der Lizenznehmer bestünde also lediglich darin, die in den jeweiligen Ländern „spezifischen Reinkarnationmuster“ des Archetyps Peter Pan auf dem Hintergrund der eigenen nationalen Wahrnehmungskulturen adäquat umzusetzen.

Mit augenfälligen Ausschnitten aus sechs europäischen Showadaptionen dokumentierte Stark, daß tatsächlich ganz unterschiedliche Moderationstypen diesen Peter- Pan-Zauber entfalten können: In Spanien gibt sich der Spielleiter den Anstrich des Monarchen, er verteilt sogar Orden an seine Mitspieler. In Italien ist es das Bild der „Mama“, das die Moderatorin versinnbildlicht. Die Franzosen haben sich einen Citoyen auserkohren, der das simple Spiel fast zu einer Abiturprüfung hochstilisiert.

Erfolg nationaler Adaption eines TV-Formates wie „Der Preis ist heiß“, so die Konsequenz des „Peter-Pan-Prinzips“, hängt demnach davon ab, wie präzise der jeweilige spezifische „Zauberbedarf“ einer Nation berücksichtigt wurde.

Man schlug sich in Marl gewissermaßen mit der Quadratur des Kreises herum: Ganz offenbar gibt es pan-(sic!)europäische Sehgewohnheiten, und doch gibt es sie wieder nicht, wie Klaus Schwarzkopf als Vertreter des deutsch- französischen Kulturkanals arte beklagte. Die beiden Zuschauergemeinschaften ließen sich letztlich nur in ihrer gemeinsamen Vorliebe für „Tiersendungen“ vereinen, dabei sei „arte doch schließlich kein Zoo!“ Oder vielleicht doch? Denn die deutschen Qualitätsfernsehspiele werden im Nachbarland allesamt als „typisch deutsch“ empfunden und – wenn überhaupt! – mit dem exotischen Blick auf eine fremde Welt rezipiert.

Wo der TV-Transfer trotz aller Sprachbarrieren und Sehgewohnheiten funktioniert, ist es praktisch immer das Archetypische, das über die Ländergrenzen hinweg als erzählerische Qualität wiedererkannt wird. Während zum Beispiel die ZDF-Reihe „Derrick“ im eigenen Land als holzschnittartige Figur verunglimpft wird, (an-)erkennen die europäischen Nachbarn in Horst Tappert den typischen Vertreter seiner Zunft.

Es scheint also, als gäbe es einen pan-europäischen Qualitätsbegriff, der sich von den nationalen Kriterien für einen gelungenen Fernsehbeitrag radikal unterscheidet. Während die nationalen Sehgewohnheiten zu jeweils spezifischen Qualitätsansprüchen geführt haben, so daß ein „wertvolles Fernsehspiel“ oder ein „spannender Krimi“ schon in Frankreich ganz anders definiert wird als hierzulande, gibt es offenbar ein zweites Qualitätskriterium, an dem sich länderübergreifender Erfolg mißt.

Demnach wäre „Der Preis ist heiß“ durchaus ein pan-europäisches Qualitätsprodukt, weil es dem Format gelingt, die globalen archaischen Bedürfnisse der Zuschauer (den Wunsch nach Verzauberung durch die Zaubermaschine Fernsehen) in spezifischen nationalen Adaptionen umzusetzen und zu bewahren. Oder andersherum gesagt: Gerade das, was den Kulturnationen als „Qualitätsfernsehen“ so heilig ist, läßt sich am wenigsten europäisieren. Was für ein seltsamer Zauber. Klaudia Brunst