Gesten zu Klangscharen

Zappa hat's versucht, Leonard Bernstein auch, aber erst Lawrence „Butch“ Morris hat das „gelenkte Improvisieren“ konzertreif gemacht  ■ Von Christoph Wagner

New York, Downtown Manhattan, März 1985, ein Sonntagnachmittag. In der „Performance Garage“, der Spielstätte der Experimental-Theatergruppe The Wooster Group, findet ein Konzert statt, das mit viel Vorschußlorbeeren bedacht wurde. Lawrence „Butch“ Morris heißt der Mann, der mit einem Ensemble aus elf Instrumentalisten und drei SängerInnen „The Image of None“ aufführt, ein Stück, an dessen Ausarbeitung neben den Musikern auch Dichter, Choreographen und Bildhauer beteiligt waren.

Der Veranstaltungsraum ist nicht groß, verfügt vielleicht über hundert Plätze. Als typisches Off- Broadway-Studio ist er in dunklen Farben gehalten, wobei die Sitzreihen zur Bühnenfläche hin abfallen. In der Mitte der Bühne ist eine metallene Skulptur postiert, die vom matten Scheinwerferlicht in ein fahles Grün getaucht wird. Mit sachten Streicher- und Oboenklängen setzt das im Halbdunkeln nur schemenhaft erkennbare Orchester ein, schmiegt sich unter die getragenen Worte des Rezitators Willem Brugman. Manchmal dringt ein rauher Saxophonton nach vorn, dann tauchen Vibraphonklänge die Musik in ein Wärmebad, um gleich darauf wieder hart den Collagecharakter hervorzukehren. Die Musik ist spontan und organisiert zugleich, und das liegt an dem Mann, bei dem unsichtbare Fäden zusammenlaufen.

„The Image of None“ war nach Monaten intensiven Übens einer der ersten Versuche, die sogenannte „Conduction“-Methode in der Öffentlichkeit zu erproben. Morris hatte Musiker aus den verschiedenen Zirkeln der New Yorker Downtown-Szene zu wöchentlichen Sessions eingeladen und sich dabei bewußt nicht an Stilgrenzen gehalten. Das Ensemble saß im Halbkreis um den Dirigenten, der Einsätze gab, die Lautstärke regulierte und den Takt schlug, wenn es rhythmische Passagen erforderten. Im Gegensatz zu einer normalen Orchesterprobe hatten weder die Instrumentalisten noch der Leiter Notenpartituren vor sich. Morris' magische Handzeichen gaben dem improvisatorischen Prozeß Richtung und Form.

„Je mehr ich mich in die Improvisation vertiefte, desto mehr wurde mir bewußt, daß es einer Methode bedarf, die dem freien Kollektivspiel ein Gravitationszentrum gibt, anstatt vieler verschiedener Zentren der jeweils beteiligten Musiker“, erklärt Morris. „Ich hätte aus den spontanen Improvisationen manchmal gern Teile herausgenommen, um sie weiterzuentwickeln. Es ging mir darum, Momente von Musik einzufangen, um damit zu arbeiten.“

Um diesem Ziel näherzukommen, entwickelte Morris ein eigenes Vokabular an Zeichen. Es umfaßt etwa 20 Handsignale, ein Abc der Gesten, aus dem er mit Hilfe des Ensembles Wörter und Sätze formt. Mal wird es aufgefordert, in einer bestimmten Passage zu verharren, dann wieder überschlägt sich alles in Aktion. Andere Symbole stehen für Wiederholung, Bewegung, gebundenes oder stakkatohaftes Spiel. Das „Memo“-Zeichen teilt den Musikern mit, den soeben gespielten Part im Gedächtnis zu behalten, um später darauf zurückzukommen. Außerdem gibt es eine Art musikalischer Schwenktechnik, wie sie nur im Film vorkommt. Sie besagt: Nur derjenige Musiker spielt, auf dessen Höhe sich der Dirigentenstab gerade befindet. „Da nichts vorkomponiert oder aufgeschrieben ist, kann ich als Dirigent schwer voraussagen, wie es klingen wird, wenn ich die Arme fallen lasse und das Ensemble einsetzt“, erläutert Morris die Ausgangssituation. „Der Startpunkt – zu Beginn – ist der spannendste Augenblick überhaupt: Totale Stille, Auftakt, und dann höre ich den Klang zum ersten Mal, und erst jetzt fange ich an, den Sound zu formen.“

Die ursprüngliche Idee, die klassische Technik des Dirigierens für die Improvisation fruchtbar zu machen, hat Morris, ursprünglich Kornettist, vom schwarzen Jazz

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schlagzeuger Charles Moffett übernommen, der in den siebziger Jahren die Proben seines Ensembles auf diese Weise leitete. Leonard Bernstein, Lucas Foss, Sun Ra und Frank Zappa haben mit diesem Verfahren experimentiert. Allerdings haben sie den Versuch nach einiger Zeit abgebrochen, weil das Verfahren ausgereizt schien. „Das Problem war, daß sie immer mit den gleichen Musikern gearbeitet haben und deshalb immer zu den gleichen Ergebnissen gelangten“, analysiert Butch Morris. „Ich arbeite dagegen jedesmal mit anderen Spielern.“

Mehr als drei Dutzend Ensembles mit annähernd 500 MusikerInnen sind bisher durch die Schule der gelenkten Improvisation gegangen – wobei Butch Morris erst bei der Arbeit mit türkischen Sufi- Musikern und einer japanischen Otsuzumi-Trommelgruppe erkannte, wie dehnbar das Konzept ist. Nur in Freejazzkreisen stößt er manchmal noch auf Ressentiments. Puristen halten ihm vor, daß seine Musik im eigentlichen Sinne keine „Free Music“ mehr ist, weil sie Freiheit beschneide. „Als Musiker fühle ich mich allein der Musik verpflichtet, nicht Kategorien“, kontert Morris die Vorwürfe. „Ich benutze die Beschränkungen und Hierarchien zum Vorteil der Musik. Meine Methode verlangt den Musikern viel ab. Sie müssen in jedem Augenblick kreativ sein. Diese Musik ist nicht frei. Sie hat ihren Preis.“

In zahlreichen Multimedia-Kollaborationen hat Morris die interdisziplinäre Tauglichkeit seiner „Conduction“-Methode weiter ausgelotet. Am Hamburger Schauspielhaus war er in eine Produktion von Christoph Marthaler involviert, während er in New York zusammen mit Blondell Cummings ein Tanztheater über das Leben von Josephine Baker entwarf. Er hat mit John Zorn, Arto Lindsay, Caetano Veloso, A. R. Penck und Markus Lüpertz gearbeitet. Produktionen von Radiowerbeclips, TV-Jingles und Film-Soundtracks kamen hinzu sowie der Auftrag einer Schweizer Uhrenwerkstatt, die bei ihm die Melodie für eine Spieluhr bestellte.

Um die Korrumpierbarkeit seiner künstlerischen Integrität macht sich Morris allerdings wenig Sorgen. „Ich habe mich nie um kommerzielle Aufträge bemüht. Wenn mich jemand anspricht, muß ihm irgendein Aspekt meiner Musik gefallen. Manche betrachten kommerzielle Arbeit als Verrat an den Kunstidealen, weil ihre musikalische Identität nicht stark genug ist, faulen Kompromissen zu widerstehen. Natürlich versuchen Auftraggeber Einfluß zu nehmen. Aber je stärker das geschieht, umso mehr Nullen müssen an mein Honorar. So funktioniert Kapitalismus.“

Lawrence „Butch“ Morris tritt vom 1. bis 5. November im Rahmen des „Total Music Meeting“ im Podewil, Berlin, auf. Nähere Infos unter: 030/394 17 56

Eine 10-CD-Box mit dem Titel „Testament: A Conduction Collection“ ist bei New World Records erschienen.