„Die verrückteste Stadt der Welt“

Heilige Stadt und Stadt der Gegensätze: Heute ist Jerusalem jüdisch und muslimisch, religiös und säkular, traditionell und modern. Doch die kulturelle Vielfalt erweist sich als ein Nebeneinander  ■ Von Ralf Melzer

„Diese vielen Steine, diese viele Trauer, dieses viele Licht“ (Yehuda Amichai, „Poems of Jerusalem“).

Jerusalem, hebräisch Yeruschalayim – „Stadt des Friedens“ – oder arabisch Al-Quds – „die Heilige“: Um kaum eine andere Stadt sind so viele blutige Auseinandersetzungen geführt worden wie um die heilige Stadt des Friedens. Keine andere Stadt hat so sehr und so lange die Phantasie der Menschen beflügelt wie Jerusalem. Wie keine andere Stadt ist Jerusalem von gleich mehreren Religionen in den letzten 3.000 Jahren verehrt, vereinnahmt und idealisiert worden.

Jerusalem liegt am Rande der Judäischen Wüste in 900 Meter Höhe. Im Sommer herrscht ein angenehm luftiges Klima. Im Winter sind Stadt und umliegende Hügel manchmal von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Einwohner und Besucher schwärmen gleichermaßen von der Intensität und Besonderheit der Atmosphäre.

Von Osten führt der Weg vom 400 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Toten Meer wie zu Zeiten der Römer hinauf durch karge, atemberaubend schöne, steinige Wüstenlandschaft. Von Westen kommt man aus Tel Aviv über den mehrspurigen Highway durch furchtbares Gebiet vorbei an bebauten Feldern und Obstplantagen. Später steigt die Straße an, und die Landschaft wird schroffer. Links und rechts stehen die verrosteten Reste von Panzerfahrzeugen, die an den Kampf der Juden um den Zugang nach Jerusalem während des Unabhängigkeitskrieges 1948 erinnern. Damals blieb auf der einen Seite der Frontlinie die westliche und südliche Neustadt von den Israelis kontrolliert. Auf der anderen Seite, in der Altstadt und im Nordosten, standen die Jordanier. Der Scopusberg mit der Hebräischen Universität wurde zur Enklave. Eine Grenze aus Stacheldraht und Heckenschützen teilte die Stadt, bis 1967 im Sechstagekrieg mitsamt der Westbank auch der Ostteil Jerusalems von den Israelis erobert und zur ungeteilten Hauptstadt erklärt wurde. Die heute etwa 160.000 Palästinenser, dem Status nach „permanent residents“, behielten ihre jordanischen Pässe.

Der Anblick der Stadt ist geprägt vom „Jerusalem-Stein“, dem gelblich weißen Kalkstein der Umgebung. Ein Gesetz noch aus der britischen Mandatszeit bestimmt, daß alle Häuser damit gebaut oder verkleidet sein müssen. Erst im vorigen Jahrhundert begann man, außerhalb der Altstadtmauern zu bauen. Inzwischen ist die Einwohnerzahl auf rund 600.000 angestiegen, im Großraum Jerusalem leben noch weit mehr Menschen.

Auf dem Tempelberg in der Altstadt überlagert sich die Geschichte der drei monotheistischen Religionen. Hier, wo einst der Salomonische Tempel stand, nahm nach jüdischer Überlieferung die Schöpfung ihren Anfang. Hier soll Abraham die Opferung seines Sohnes vorbereitet haben. Von hier aus, so der islamische Glaube, ritt Mohammed für eine Nacht in den Himmel.

Jerusalem ist nach Mekka und Medina die drittheiligste Stadt des Islam. Seit 1967, erst recht seit der Intifada, wurde die Stadt außerdem zum Symbol des Kampfes der Palästinenser um politische Selbstbestimmung. Um Jerusalem, kündigte Jassir Arafat wiederholt an, „werden wir einen Heiligen Krieg führen“. Und den Christen ist die Stadt als Ursprung ihres Glaubens nicht minder heilig. Heute leben immerhin etwa 40.000 Christen der verschiedenen Konfessionen in Jerusalem. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist die meiste Zeit von Rivalität, Mißgunst und Handgreiflichkeiten bestimmt gewesen. Insbesondere Ost- und Westchristentum lagen stets im Streit.

Für die Juden wurde Jerusalem zum Fixpunkt ihrer Identität und zum Symbol des Zusammenhalts in den Jahrhunderten der Diaspora, die mit der Eroberung durch die Römer und der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 nach Christus begann. „Nächstes Jahr in Jerusalem“, der berühmte Satz aus dem Pessach-Gebet, ist Ausdruck des Strebens, Jerusalem niemals zu vergessen. Übriggeblieben ist vom zweiten Tempel nur eine der Westmauern, die sogenannte Klagemauer. Doch auch um das jüdische Heiligtum gibt es einen langen Streit, der bisweilen gewalttätig ausgetragen worden ist. Nach Auffassung der Muslime ist sie nämlich Teil der El-Aqsa-Moschee.

Jahrhundertelang galt Jerusalem als Mittelpunkt des Universums. Für manchen Okkultisten ist es der „Nabel der Welt“, für Arthur Koestler war es eine „Tragödie ohne Katharsis“, und für Israelis wie Palästinenser ist es fester Bestandteil ihrer Identität.

Heute ist Jerusalem jüdisch und muslimisch, religiös und säkular, orientalisch und westlich, traditionell und modern. Allein der jüdische Bevölkerungsanteil umfaßt Gegensätze, die krasser kaum sein könnten. In Mea Shearim, dem Viertel der Ultraorthodoxen, die den Staat Israel als unrechtmäßige Vorwegnahme der Ankunft des Messias ablehnen, muß selbst der züchtig gekleidete Besucher damit rechnen, mit Steinen beworfen zu werden, wenn er hier etwa fotografiert oder am Sabbat Auto fährt. Nur wenige Kilometer entfernt dann die sogenannten „canons“: hochmoderne, klimatisierte Einkaufszentren nach amerikanischer Art mit gläsernen Fahrstühlen, Levi's-Shops, Cafés und Kinos. Diese Seite Jerusalems hat aufgeholt gegenüber dem schon immer weltlichen Tel Aviv. Die Diskothek „Underground“ zum Beispiel und ihr jugendliches Publikum unterscheiden sich kaum von den Clubs in Paris oder New York. Höchstens dadurch, daß im Halbdunkel neben der Tanzfläche Maschinengewehre an die Wand gelehnt stehen.

Dennoch: Unter dem Strich ist das Erscheinungsbild in den letzten Jahren religiöser geworden. Die Zahl der orthodoxen Juden – der „Schwarzen“, wie sie von den säkularen Israelis genannt werden – ist auf etwa 170.000 gestiegen. Schon verlassen viele nichtreligiöse Familien die Stadt. Mit Verärgerung beobachten sie, wieviel öffentliche Mittel in religiöse Einrichtungen fließen und daß am Sabbat immer mehr Straßen gesperrt werden. Seit vor zwei Jahren der langjährige liberale Bürgermeister Teddy Kollek seinem Herausforderer Ehud Olmert unterlegen war, hat sich diese Tendenz noch verschärft. Der Grund dafür ist einfach: Olmert verdankte seinen Sieg dem geschlossenen Wahlverhalten der Religiösen.

Inzwischen kommt schon jedes zweite Kind in eine religiöse Schule. Im Jahr 2000 werden nach statistischen Prognosen Orthodoxe und Nationalreligiöse die Bevölkerungsmehrheit stellen. Bereits jetzt hat diese Entwicklung negative Auswirkungen auf die Vielfalt der Kulturszene Jerusalems. Die kulturelle Vielfalt Jerusalems erweist sich auf den zweiten Blick nicht als multikulturelles Miteinander, sondern als ein Nebeneinander fast ohne Austausch zwischen Israelis und Palästinensern oder zwischen weltlichen und orthodoxen Juden. Mehr noch: Die einzelnen Fraktionen der frommen Juden sind untereinander heillos zerstritten, und die meisten nichtreligiösen Israelis empfinden die Gegensätze zu den Orthodoxen als mindestens so groß wie zu den Palästinensern.

„Jerusalem ist die verrückteste Stadt der Welt“, meint Andrä Gaerber, Leiter der Ost-Jerusalem-Niederlassung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Das neu aufgemachte Büro organisiert unter anderem Seminare mit Israelis und Palästinensern, die helfen sollen, Mißtrauen abzubauen. Noch sind Gemeinschaftsprojekte dieser Art jedoch selten. Nach wie vor verweigert mancher Taxifahrer Touren in den jeweils anderen Stadtteil. Die Organisation des täglichen Lebens erfolgt weitgehend getrennt. Bestehende Kontakte sind mit wenigen Ausnahmen praktischer Natur und nicht vom Interesse füreinander bestimmt. Und so wird es auf absehbare Zeit vermutlich auch bleiben, selbst bei der günstigsten, das heißt einer halbwegs friedlichen Entwicklung. Alltag und politische Debatten fügen sich ein in das jahrhundertealte, konfliktreiche Geflecht religiöser und politischer Ansprüche.

Es mag vernünftig gewesen sein, das komplizierte Jerusalem- Thema in den Gesprächen zwischen Israelis und Palästinensern zunächst auszuklammern, um den Autonomieprozeß damit nicht von Anfang an zu blockieren. Im kommenden Jahr sollen aber Verhandlungen über den endgültigen Status aufgenommen werden. Derweil haben die Israelis längst Tatsachen geschaffen: Um das alte Ost-Jersualem legt sich ein Ring jüdischer Wohnviertel und Siedlungen auf konfisziertem Boden. Die Folge ist, daß der arabische Stadtteil in seiner Ausdehnung gehindert wird und in Ost-Jerusalem inzwischen ungefähr ebenso viele Juden wie Muslime leben.

Die Israelis werden im nächsten Jahr in Parlamentswahlen über die Friedenspolitik abstimmen, und in Jerusalem will man noch bis Ende 1996 groß angelegt das 3.000-Jahr- Jubiläum der Eroberung durch König David feiern. Schon längst aber sind dunkle Schatten auf das Projekt gefallen. Die arabische Bevölkerung ist sowieso dagegen, und nach Auffassung der Orthodoxen wäre es erst im Jahr 2132 soweit. Die Europäische Union schickt lieber keine offiziellen Vertreter, weil Israel bestrebt sei, so der durchaus zutreffende Befund, mit dem Fest seinen Souveränitätsanspruch über ganz Jerusalem zu untermauern.

„Jerusalem ist das Herz Israels“, sagt Miriam, eine junge Israelin, die in Jerusalem geboren wurde und jetzt in Tel Aviv studiert. „Ohne Jerusalem“, fügt sie hinzu, „würde Israel sterben.“ So ähnlich wie Miriam sehen das die meisten Israelis. Der neue Wirtschaftsminister Yossi Beilin, zuvor stellvertretender Außenminister und alles andere als ein Falke, läßt keinen Zweifel daran, daß Jerusalem „ungeteilt, unter israelischer Souveränität, unter einer Stadtverwaltung und Hauptstadt Israrels“ bleiben werde. Innerhalb dieser Grenzen sieht Beilin gleichwohl Spielräume für eine palästinensische Selbstverwaltung.

Die Palästinenser freilich haben ihr eigenes Szenario: nicht eine, sondern zwei Stadtverwaltungen und nicht ein, sondern zwei Bürgermeister mit einem koordinierten Gremium darüber. Mahdi Abdul-Hadi, Arafat-Berater und Präsident der „Palestinian Society for the Study of International Affairs“, will Jerusalem als „offene Stadt mit zwei Identitäten und zwei Flaggen“.

Schwieriger noch, als ein Kompromißmodell für die Stadtverwaltung zu finden, wird es sein, sich über die grundsätzliche Frage der Souveränität und den Status gegenüber dem Westjordanland zu einigen: Mahdi Abdul-Hadi sieht Ost-Jerusalem als „integralen Bestandteil“ der Westbank. Dagegen ist für die israelische Opposition schon die Existenz des „Orient- House“ in Jerusalem ein Dorn im Auge. In dem PLO-Hauptquartier, so der Vorwurf, finden „diplomatische Aktivitäten“ statt. Eine solche administrative Enklave der Palästinenser aber will man nicht dulden, weil sie die Souveränität Israels unterlaufe.

Die Jerusalem-Frage ist nicht in erster Linie ein politisch-praktisches, sondern ein psychologisch- emotionales Problem. Jerusalem ist ein Symbol. Das erleichtert das Geschäft der Fanatiker.

Jerusalem ist nichts für den kurzen Atem. Gefragt sind gleichermaßen Visionen und Pragmatismus: ein offenes Jerusalem; die Hauptstadt Israels; politischer Mittelpunkt der Palästinenser vielleicht im Rahmen einer Konföderation mit Jordanien; vielleicht auch mit einer Art Korridor vom arabischen Stadtteil zu einem neuen, östlich gelegenen palästinensischen Zentrum; ein Jerusalem mit gemeinsamer Verantwortung für die heiligen Plätze in der Altstadt.