„Die gemischte Gesellschaft ist kein Traum“

■ Die französische Soziologin Cathérine Samary über den Krieg in Bosnien

Liegen die Ursachen der Zerstörung des ehemaligen Jugoslawien in der großserbischen Ideologie und einem faschistisch-serbischen Aggressionskrieg? Oder ist der Zerfallsprozeß bedingt durch die massive ethnische Diskriminierung der Serben in Kroatien? Ist Bosnien-Herzegowina ein Land jahrhundertealten Hasses – oder kann es im Gegenteil auf eine Geschichte jahrhundertelanger Toleranz zurückblicken? Beweisen schon die Massaker der Ustascha an den Serben während des Zweiten Weltkrieges die Unmöglichkeit eines vereinten Südslawien? Oder ist der gemeinsame Kampf der Tito-Partisanen nicht gerade Beleg für das Funktionieren des Zusammenlebens? Ist der Krieg in Bosnien nur durch Militärintervention zu stoppen – oder ist wegen des allseitigen Hasses allein Neutralität angemessen?

Die gegensätzlichen Interpretationen des Zerfallsprozesses des ehemaligen Jugoslawien haben sich inzwischen so deutlich herausgeschält, daß eine distanzierte Sicht möglich geworden ist. Es ist das Verdienst der französischen Sozialwissenschaftlerin Cathérine Samary, Dozentin an der Universität Paris, diese Interpretationsmuster zum Ausgangspunkt ihrer Analyse gemacht zu haben. Ihre Antworten weisen eine Differenzierung auf, die, statt in die Entweder-oder-Falle zu tappen, Widersprüche aufzuklären vermag.

Cathérine Samary wendet sich gegen den ausgrenzenden Nationalismus, zugleich aber dagegen, den Jugoslawismus als „natürlich“ anzusehen. Sie kritisiert gleichermaßen jene Serben, Kroaten und Kosovo-Albaner, die die Geschichte instrumentalisieren und zum eigenen Vorteil bestimmte Geschichtsperioden als „Argument“ für heutige Gebietsansprüche anführen.

Die Fragwürdigkeit solcher Geschichtsbetrachtung, welche heute vielfach als „Argument“ der Vertreibung der jeweils anderen Volksgruppe dient, ist jedoch nach Samary nicht dadurch zu beseitigen, daß die Unterschiede zwischen den Volksgruppen geleugnet oder als künstlich abgetan werden. Die Autorin zeigt anhand der Geschichte, daß Slowenen, Serben, Montenegriner, Kroaten, Bosnier und Mazedonier je nach ihrem politischen Willen sich annäherten oder voneinander entfernten. Sie erinnert an die meist vergessene Erkenntnis, daß Nationen im heutigen Sinn Resultate des 18. und 19. Jahrhunderts sind, der Begriff auf die Reiche des Mittelalters mit ihren Vielvölkerschaften nicht anwendbar ist. Nationale Identität beruht stets auf historischer Entwicklung, ist nie „natürlich“.

Samary weist den Neutralismus der internationalen Gemeinschaft zurück, unterscheidet zwischen Tätern und Opfern, zwischen Belagerern und Belagerten der bosnischen Städte. Die Verantwortung für den Krieg sieht sie im faschistoiden großserbischen und großkroatischen Nationalismus. Zugleich verweist sie auf innere Gegensätze in der Geschichte der bosnischen Gesellschaft: zwischen Stadt und Land, zwischen (muslimischen) Grundbesitzern und (serbischen) Bauern. Der Anspruch, den Nationalismus als Folge einer Gesellschaftskrise zu deuten, die jenen „nährt“, bleibt indes uneingelöst, obgleich die Krise des „Projekts“ Jugoslawien und die Auswirkungen des weltweiten Liberalismus als Voraussetzungen der Entstehung ausgrenzender Nationalstaaten beschrieben werden. Doch wenn man wie Samary den Krieg nicht als „Bürgerkrieg“, sondern als äußeren Aggressionskrieg versteht, nicht als „innerethnischen Kampf“, sondern als Resultat der Bildung von Nationalstaaten im Sinne eines ausschließenden Nationalismus – wie erklärt sich dann dessen Erfolg? Was fehlt, sind Deutungen für die Wirksamkeit der Ideologie der „ethnischen Säuberungen“.

Hinsichtlich der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft prangert Cathérine Samary die katastrophale Realpolitik der Großmächte an, die nur auf die stärksten Staaten der Region, auf Serbien und Kroatien, setzten und mit den Teilungsplänen für Bosnien deren ethnischen Nationalismus förderten. Die Autorin fordert Konsequenz: Wer das nationalistische Prinzip „ethnisch reiner“ Staaten ablehnt, muß die nichtnationalistischen Serben und Kroaten (wie die Bürgerräte in Bosnien) unterstützen – und ausschließende ethnische Staatskonzepte von „Großserbien“ bis „Großalbanien“ ablehnen.

Samary spricht im Namen jener „Bosnierinnen und Bosnier, die verzweifelt sind, weil sie von ,zwei Dämonen verschlungen‘ werden – vom serbischen und vom kroatischen Nationalismus“. Und sie nennt jene, welche wie der französische Journalist Jacques Merlino das Bosniertum als „Traum“ bezeichnen, verantwortungslos, weil alle Teilungspläne nur den „Alptraum“ der Kriegsherren stützen. Ihr Fazit: „Die bosnische gemischte Gesellschaft ist kein Traum.“ Johannes Vollmer

Cathérine Samary: „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“. Neuer ISP Verlag, Köln 1995, 167 S., 25 DM