Wir sind das Autofahrervolk

Nachdem sie im Stadtrat scheiterte, will die CDU die DresdnerInnen am kommenden Sonntag per Bürgerentscheid über die umstrittene, stadtnahe Führung der Autobahn nach Prag abstimmen lassen  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Das war's dann wohl. Dräuende Wolken, eisiger Wind, Pfützen. In der Straßenbahn steht Dresdens bündnisgrüner Umweltdezernent Klaus Gaber. Wie die DresdnerInnen am Sonntag entscheiden werden? „Hängt ganz vom Wetter ab.“ Die Bahn hält am Rathaus, auch Gaber steigt aus. Von allen Seiten eilen Leute mit Regenschirmen und Fahrrädern zur Kundgebung. Bald stehen weit über tausend vor der „Goldenen Pforte“. Überall sieht man ihr Signet: Ein Specht pickert am Autobahnbeton. Abends wird CDU-Oberbürgermeister Herbert Wagner vor der Fernsehkamera maulen: „Dieselben Jugendlichen, die heute an der Fahrraddemo teilgenommen haben, werden in zehn Jahren dankbar auf der Autobahn fahren. Da bin ich mir sicher.“

Ja, der Oberbürgermeister. Ein Mann, sein Wort. „Mit mir“, zitiert ihn beifällig ein PDS-Plakat, „ist die stadtnahe Variante nicht zu machen“. Auch da war er ganz sicher, vor zwei Jahren, als das Parlament der Landeshauptstadt mit deutlicher Mehrheit eine Trassierung der A 17 von Dresden nach Prag am südlichen Stadtrand ablehnte. Im Kabinett Biedenkopf verhallten Stadtratsbeschluß und Wagnerwort folgenlos, wie Räuspern im Fahrtwind. Unbeirrt legte Sachsens Landesregierung die abgelehnte Trasse dem Bonner Verkehrsministerium zum Linienbestimmungsverfahren vor. Dresdens OB bekam intern die Linie gewiesen. Als das Stadtparlament ihn dann zur Klage gegen das Betonprojekt aufforderte, konterte er mit Veto. Im Januar dieses Jahres erneuerten die Stadträte ihren Beschluß gegen die stadtnahe Trasse. Auf PDS-Anfrage im Landtag beschied Sachsens Staatsregierung: „Der Beschluß ist falsch.“

Wir sind auch das Volk, erinnerte sich die Unionsfraktion, die im neugewählten Stadtrat mit DSU und FDP die Minderheit stellt: freilich nur, wenn SPD, Bündnisgrüne, PDS und Bürgerfraktion – wie gegen die Autobahn – zusammenhalten. So ging die CDU sammeln, Unterschriften für ein Bürgerbegehren. Nächsten Sonntag sollen 372.000 DresdnerInnen sich entscheiden: Sind Sie für den Bau der Autobahn Dresden–Prag entsprechend der abgebildeten Linienführung? Kein anderes kommunales Thema ist in Dresden seit 1990 so gründlich und kontrovers, so emotional und über weite Strecken verlogen debattiert worden. Diese Autobahntrasse zerreißt Dresden, lange bevor ihre ersten Meter betoniert sind.

Also nehmen sie heute noch einmal alle Kräfte zusammen, die Grüne Liga und der ADFC, die „Pfarrer gegen die Autobahn“, über 50 im „Netzwerk“ vereinte BürgerInneninitiativen und Umweltgruppen. Kundgebung, Demo auf den Spuren des 89er Herbstes, Informationsstände, Flugblätter. Der pickernde Specht einigt die Opposition. „Unser Nein zur stadtschneidenden A 17“, wiederholt Netzwerk-Sprecher Matthias Hinz, „ist keine Verhinderungshaltung, sondern Auftrag für eine zukunftsweisende Verkehrspolitik.“ Wolfgang Ullmann, bündnisgrüner Europaparlamentarier und gebürtiger Dresdner, formuliert es einmal mehr besonders schön: „Wir wollen den Verkehr kultivieren, nicht maximieren!“ Fast ausschließlich junge DresdnerInnen nehmen an der Kundgebung teil. Viele dürfen noch gar nicht wählen. Eine Umfrage des Stadtschülerrates war vom Oberschulamt verboten worden unter dem Vorwand, Schule sei „kein Spielfeld für Politik.“

Auch Britta Loschke darf nicht abstimmen. Sie ist Leipzigerin. An der TU Dresden studiert sie Landschaftsarchitektur, und ficht mit dem „Grünen Jugendbündnis“ für die grünen Täler und Hügel am Südrand der Unistadt. Die 1992 gegründete, den Grünen in Sachsen nahestehende, Jugendorganisation will WählerInnen mit Wissen versorgen: „Aber nur mit sehr wenigen Leuten kommen wir in ein sachliches Gespräch.“ Die meisten würden auf ihren Schlagwort- Überzeugungen bestehen. Doch da war auch dieser Fernfahrer: Erst lobte er gute Erfahrungen mit der „Rollenden Landstraße“, dem sächsisch-tschechischen Experiment, Güter im Grenzverkehr auf die Schiene zu holen; dann schimpfte er auf die A 17, die das Gegenteil bewirken werde.

„Es gibt viele gute Gründe gegen die stadtnahe Trasse“, sagt ein Kundgebungs-Redner, „den Zschoner Grund, Plauenschen Grund, Lockwitzgrund...“ Dresdens dörfliche Peripherie mit ihren romantischen Tälern würde betoniert, die wichtigste Kaltluftschneise für die Stadt im Kessel verpestet. Der Abgasteppich reichte bis zum Altmarkt. Junge Union und die liberale „Juli A“ laden Autofahrer zum „Frühstück in Prag“ ein: Kaffee bestellen wollen sie aber erst in 15 Jahren, wenn die A 17 fertig sein könnte. Bündnis-90-Aktivist Andreas Jahnel amüsiert sich über das Eigentor: „Ich warte nicht bis 2010 auf ein Frühstück in Prag.“ Er lud die ausgeschlafenen Prag-Freunde schon für den Reformationstag, der in Sachsen Feiertag ist, in die goldene Stadt ein. „Abfahrt 8.37 Uhr mit dem Eurocity. Ankunft: 11.02 Uhr“.

Wo die BefürworterInnen des Projekts mit einer Verkehrsentlastung der Stadt rechnen, sehen seine GegnerInnen zuerst eine Bündelung von transeuropäischem Autoverkehr und das Aus für kostengünstige Alternativen wie den Ausbau der Bahnstrecke und der Bundesstraßen. Biedenkopfs Wirtschaftsminister Kajo Schommer indes preist schon heute das künftige Verkehrsparadies im Elbtal: Mit der A 17 werde „eine Lücke auf der Nord-Süd- Achse des zentraleuropäischen Fernstraßennetzes“ geschlossen, „das Tor nach Südeuropa“ geöffnet, der Ballungsraum zwischen Dresden und Pirna „entlastet“. „Gegen den Stau in Dresden“ argumentieren die Autobahn-Befürworter, und der DSU schwant noch größere Unbill: „Gegen rot- grünes Chaos!“

Auf der Trassenskizze, die am Sonntag jedem Stimmzettel beiliegen wird, sind Tunnel und „Grünbrücken“ eingezeichnet, was ökologisch ausschaut. Doch wurde dem „Netzwerk“ rechtzeitig zur heißen Phase des Wahlkampfes ein Dokument zugespielt, das in der Werbebroschüre des Wirtschaftsministeriums keine Erwähnung findet, obwohl es schon ein Jahr alt ist: Darin erinnert das Bonner Verkehrsministerium die Dresdner AmtskollegInnen an die Kostenprognose für die Autobahn Dresden–Prag laut Bundesverkehrswegeplan: Genau 625 Millionen Mark. Nun soll das schicke Ökowerk aber laut Dresden 1,3 Milliarden kosten. „Mit dem mehr als verdoppelten Kostensatz“, gibt Bonn zu bedenken, „ist die Bauwürdigkeit dieser Maßnahme erheblich gesunken. Bei den begrenzten Finanzmitteln im Straßenbauplan ist eine Finanzierung dieser neuen Autobahn wegen ihrer hohen Kosten derzeit nicht gewährleistet. Ich bitte“, jetzt kommt der Hammer auf die Tunnel, „sicherzustellen, daß bei den weiteren Planungsschritten entsprechende Kostenreduzierungen bzw. -minimierungen erreicht werden.“

Die Studentin Britta Loschke kann sich diese „Kostenreduzierungen“ schon vorstellen: „Fünfzig Meter neben einer der Zufahrtsstraßen für die A 17 steht eine Mensa. Lärmschutzwände, Übergänge für Fußgänger, das wird alles dem Sparzwang zum Opfer fallen.“ Sie hat recht. So steht es auch in dem Brief aus Bonn: „Die Planung des Streckenentwurfes ist, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kosten, mit dem Bundesministerium für Verkehr abzustimmen.“ Das gelte „insbesondere“ für die Ingenieurbauwerke: Tunnel, Grünbrücken und Talbrücken.

Am 10. Oktober hat die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Kleine Anfrage zur A 17 gestellt. Die letzte Frage bezieht sich auf die inzwischen von der Presse verbreiteten Bonner Sparvorgaben: „Ist sich die Bundesregierung bewußt und hält sie es für akzeptabel, daß mit solchen Äußerungen des Bundesverkehrsministeriums Druck auf die Entscheidungsträger vor Ort und im Hinblick auf den Bürgerentscheid am 5. November 1995 gemacht wird?“ Eine Antwort steht noch aus.

Kein Wunder, daß sich die sächsische CDU bei ihrer Pro-Autobahn-Kampagne von Feinden umgeben sieht. Ministerpräsident Kurt Biedenkopf diffamierte auf dem Landesparteitag der Union KritikerInnen als ExtremistInnen. „Unsere Gegner“, instruierte OB Wagner seine Parteifreunde schon im Sommer in SED-Manier, „sind hochgradig mobilisiert. Sie bringen alles an Polemik, zahlenmäßiger Stärke, Organisationskraft und Kampagnefähigkeit auf die Beine, was das rot-grüne Verhinderungsbündis aufzubieten hat.“ Jedes Parteimitglied müsse „bis zum Umfallen kämpfen, in der Familie wie am Arbeitsplatz“. Da jubelte höhnisch die PDS. Solche Slogans kannten die GenossInnen noch als 1.-Mai-Losung: „Mein Arbeitsplatz – Mein Kampfplatz für den Frieden!“

90.000 DresdnerInnen müßten am Sonntag mit Ja stimmen, um den Stadtratsbeschluß gegen die stadtnahe Trasse zu kippen. Entscheiden die WählerInnen aber mit Nein, bestätigen also die Entscheidung ihres Stadtrats, dann müßte OB Wagner doch noch gegen die Landesregierung und das Bundesverkehrsministerium klagen, die die stadtnahe Trasse diktiert haben. Und Biedenkopf müßte kleinlaut antreten und um eine neue Linienbestimmung bitten. Das würde den Bau der A 17, die im Bundesverkehrswegeplan als „vordringlicher Bedarf“ klassifiziert wird, verzögern. Britta Loschke gibt sich optimistisch: Die Autobahn ist erst da, wenn sie gebaut ist. Nicht umsonst steht die seit den dreißiger Jahren auf dem Papier.“