Tsch-Tsch-Tsch-Tschurilin Von Martin Sonneborn

Tschurilin, so Prof. Paul Burg- Schaumburg, war ein großes Original. Wenn er seine Moskauer Freunde zu einer „Eisenbahnfahrt nach Petersburg“ einlud, hatte er sein Wohnzimmer in ein Bahnhofsrestaurant verwandelt, in dem ganze Batterien von Flaschen auf die Reisenden warteten.

Nachdem sich alle Mitreisenden gestärkt hatten, begaben sie sich unter Mitnahme einiger Spirituosen „ins Abteil“ bzw. Nebenzimmer, dessen Türen daraufhin verschlossen wurden. Tschurilin ließ es sich nicht nehmen, selbst die Lokomotive zu geben, indem er bei der Abfahrt laut zischte und pfiff.

Jeweils streng nach Fahrplan wurden später dann die Türen zum Salon wieder geöffnet, den die Bediensteten in ihren Bahnhofskellneruniformen stets wieder hergerichtet und mit neuen Alkoholvorräten versehen hatten. Wenn der Zug morgens um vier Uhr fahrplanmäßig die Station Bologoe erreichte, konnten für gewöhnlich einige Reisende die Fahrt nicht weiter fortsetzen, und wenn der Zug um 7.30 Uhr in Petersburg eintraf, lagen laut Prof. Paul Burg- Schaumburg alle Fahrgäste unter dem Tisch. Der große Tschurilin aber begab sich daraufhin in sein Stammlokal, wo er sich eiskalten Wodka, saure Gurken und Fischpastete servieren ließ.

Man sieht, Zugfahren durfte zeitweise durchaus als interessante Alternative zum allabendlichen Gang ins Wirtshaus gesehen werden. Leider ist Zugfahren heute nicht mehr der bare Genuß, der es noch zu Tschurilins Zeiten ausgezeichnet hat unter den Tätigkeiten kontemplativen Müßiggangs. Denn konnte etwa auch der russische Dichter Wenedikt Jerofejew früher Monate mit Freunden in einem irrtümlich aufs Abstellgleis verschobenen Abteil verleben, trinken und in wildem Wettstreit Klassiker rezitieren (wer sich verspricht, muß für neuen Wodka sorgen), so wird heute die Tatsache, daß Zugfahren mittlerweile unwiderruflich mit einem Ortswechsel verbunden ist, strikt überbewertet. Und von der Bundesbahn gern als billige Entschuldigung dafür genommen, daß zumeist wesentlich mehr Gäste eingeladen werden als Sitze vorhanden sind. Zudem wird dem Reisenden von den Bediensteten in ihren Bahnhofskellneruniformen ein Fahrpeis abgepreßt, der einer wohlwollenden Beurteilung im Ansatz spottet, was im übrigen auch für die schleppend dürftige Versorgung mit Spirituosen gelten muß!

So mag es nicht verwundern, wenn ansonsten untadelige Zeitgenossen dazu übergehen, zu den Einladungen der Bundesbahn eigene, höchstprivate Spirituosenvorräte ins Abteil mitzuführen. Und auch die Minderung des geforderten Obolus (Dame Tanja! Herr Pehle!) durch das kursbuchgeplante Vorliebnehmen mit einem Billet für die zwei Drittel der Strecke, in welche personalwechselbedingte Fahrkartenkontrollen fallen, scheint mir mithin mehr als gerechtfertigt.

Daß aber einige mit dem Übermut der Jugend versehene Hauptstädter (Herr Schiffner!) mit dem Gedanken spielen, für die Strecke nach Frankfurt am Fahrkartenschalter eine Karte „Bitte-einmal- von-Berlin-bis-kurz-hinter-Fulda, sie-wissen-schon, da-wo-die-letzte-Kontrolle-kommt“ zu verlangen, augenzwinkernd gar, das dürfte denn sogar Tschrilins bzw. Prof. Burg-Schaumburgs Gefallen gefunden haben.