: In Belgrad gestrandet
Serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien leben in ständiger Unsicherheit. Einige von ihnen vertreiben Kroaten und Ungarn aus ihren Häusern ■ Aus Belgrad Jürgen Gottschlich
Der Mann ist ein Nervenbündel. Kaum sitzt er zwei Minuten auf dem Stuhl, springt er auf, rennt zur Tür, kommt wieder zurück, nur um mitzuteilen, daß er jetzt gehen müsse. Er bleibt dann doch noch ein paar Minuten, redet einige abgehackte Sätze und verrenkt sich dabei fast den Hals, weil er ständig zur Tür schaut. Ende August, so erzählt er, wurde er in einer Wohnung bei Bekannten festgenommen. Kaum zwei Wochen, nachdem er auf der Flucht aus der von kroatischen Truppen eroberten Krajina in der serbischen Hauptstadt Belgrad angekommen war. „Die Polizei hatte Listen mit Namen und Adressen. Die Listen hatte sie vom Roten Kreuz.“ Der Serbe, er ist vielleicht Mitte dreißig, will auf keinen Fall seinen Namen nennen. Diesen Fehler habe er ja gerade beim Roten Kreuz gemacht. „Ich hatte überhaupt kein Geld und keine Möglichkeit, mich durchzuschlagen. Deshalb habe ich mich beim Roten Kreuz registrieren lassen.“ Nach der Festnahme brachte die Belgrader Polizei den Mann zu einer Sammelstelle, wo schon mehrere andere serbische Flüchtlinge warteten. Alle wurden auf einen Lkw verladen und nach Ostslawonien gebracht. Dort, in der Nähe von Vukovar, gab die Belgrader Polizei die Männer in die Obhut des berüchtigten serbischen Milizführers „Arkan“. „Wir wurden beschimpft und geschlagen. Man warf uns vor, in der Krajina nicht gekämpft zu haben. Einige von uns wurden an dicke Bäume gefesselt und mußten tagelang dort stehen.“
Man sieht dem Mann an, daß er mißhandelt wurde. Das Gesicht ist zerschlagen, auf dem Rücken hat er Prügelspuren. „Wir wurden in Uniformen gesteckt und an die Front bei Banja Luka gebracht.“ Dort gelang es ihm, zu desertieren. Jetzt ist er wieder in Belgrad, jede Minute darauf gefaßt, erneut festgenommen zu werden. Er will unbedingt ins Ausland, aber „ohne Papiere, ohne Visum, ohne Geld: Wo soll ich denn da hin?“
Wie ihn gibt es viele serbische Männer aus Kroatien und Bosnien in Belgrad, die in ständiger Angst leben, durch irgendeinen dummen Zufall in die Fänge der Polizei zu geraten. Wie zum Beispiel Ninko M., der mit seiner Familie aus Knin in der Krajina nach Belgrad gekommen ist. Für Ninko M. gibt es in Serbien nur einen Ort, wo er vor der Polizei in Sicherheit wäre: „Im Kosovo würden sie mich in Ruhe lassen.“ Als Ninko ungefähr am 15. August im großen Flüchtlingstreck aus der Krajina nach Serbien kam, gehörte er mit seiner Familie zu den Privilegierten, die ein eigenes Auto hatten. „Als wie rüberkamen, sagte uns die serbische Polizei, wir sollen immer Richtung Süden fahren, bis in den Kosovo. Dort bekämen wir dann eine neue Wohnung. Was sollen wir im Kosovo? Wir wollten zu Freunden nach Belgrad.“ Doch das war nicht so einfach. „Alle Autobahnabfahrten waren von der Polizei gesperrt worden. Die Leute wurden gezwungen, nach Süden zu fahren.“
Trotzdem gelang es den meisten Flüchtlingen, sich nach Belgrad abzusetzen oder aber gleich im Norden, in der Wojwodina, unterzutauchen. Nach Schätzungen der Soros-Stiftung, einer privaten Hilfsorganisation, die von dem aus Ungarn stammenden, schwerreichen US-Bürger George Soros gegründet wurde und die viel Geld für die Betreuung von Flüchtlingen aufwendet, sind von den rund 200.000 Krajina-Serben, die im August über die Grenze kamen, nur wenige Tausend im Kosovo. „Die anderen, der größte Teil, vielleicht 130.000, sind in der Wojwodina, der Rest in Belgrad“, schätzt Sonja Licht, die Leiterin der Stiftung. Die Krajina-Flüchtlinge sind aber nur der letzte Schub, der jetzt in Serbien gelandet ist. „Seit 1991, als Tudjman Kroatien zu einem rein kroatischen Staat erklärt hat, sind ungefähr 700.000 Serben aus Kroatien und Bosnien nach Restjugoslawien geflohen. Anfangs noch Leute, die Geld hatten und sich einen Umzug leisten konnten, aber im Laufe der Jahre wurden die Leute immer ärmer.“ Trotzdem hat das Regime noch Glück“, meint Licht, „90 Prozent der Leute sind bei Freunden oder Verwandten untergekommen.“ Vielleicht 60.000 bis 70.000 Flüchtlinge müßten wirklich versorgt werden. Die seien dann aber auch oft völlig verloren, weil die Belgrader Regierung das Problem verdrängt und auch die meisten internationalen Hilfsorganisationen einen Bogen um Serbien machen. „Es ist politisch nicht opportun, serbischen Flüchtlingen zu helfen“, stellt Sonja Licht lakonisch fest. „Serben sind schon aus Prinzip nie Opfer. Unicef hat für die Betreuung von 200.000 Flüchtlingskindern gerade mal eine Million Dollar im Jahr zur Verfügung, und auch das UNHCR stellt für serbische Flüchtlinge nur einen sehr schmalen Etat bereit.“
Dem Regime des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević sind die Flüchtlinge erst recht ein Dorn im Auge – eine tägliche Mahnung für eine gescheiterte Politik. Deshalb ist die serbische Führung in den letzten Wochen zu einem drastischen Schritt übergegangen, um die Zahl der Flüchtlinge nicht weiter anwachsen zu lassen: Die Grenze zwischen Serbien und dem serbisch kontrollierten Teil Bosniens wurde dicht gemacht. Als die bosnische Regierungsarmee im September auf Banja Luka vorrückte und Zehntausende Serben aus ihren Dörfern vertrieben wurden, blieb die Grenze geschlossen. Im Auftrag von Milošević, offiziell gedeckt durch das serbische Innenministerium, sorgten die Arkan- Milizen dafür, daß die serbischen Flüchtlinge in Bosnien blieben.
Angesichts der offiziellen Ignoranz und einer zunehmenden Ablehnung durch die alteingessenen Belgrader hoffen viele Krajina- Serben auf eine Rückkehr in ihre Heimat. Obwohl in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung zwischen Serbien und Kroatien, der UNO und der Bosnien- Kontaktgruppe immer wieder von Rückkehrmöglichkeiten für Flüchtlinge geredet wird, stehen die Betroffenen in Belgrad vor einer paradoxen Situation. Sie wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Es gibt keine Regierungsstelle, die rückkehrwillige Serben registriert oder sonstige organisatorische Voraussetzungen für eine Heimkehr zu schaffen versucht. Die einzigen, die sich dieses Problems annehmen, sind die MitarbeiterInnen des „Helsinki Komitees für Demokratie und Menschenrechte“.
Das Büro des Komitees liegt im Zentrum von Belgrad, nur zwei Minuten vom Platz der Republik entfernt. Trotzdem ist es nicht ganz leicht zu finden. An dem alten Gründerzeithaus in einer Seitenstraße der Fußgängerzone ist keinerlei Hinweis zu finden, und selbst die Eingangstür zu dem winzigen Büro im vierten Stock ist leicht zu übersehen. Wer allerdings vormittags vorbeikommt, kann den Weg gar nicht verfehlen. „Häufig reicht die Schlange der Leute, die bei uns anstehen, vom vierten Stock bis auf die Straße“, erzählt Sonja Biserko, eine der beiden festangestellten Mitarbeiterinnen des Komitees. „Eigentlich“, so Biserko, „können wir nicht viel mehr tun, als die Situation zu dokumentieren und öffentlich zu machen.“
Zur Zeit hat das Komitee in Flüchtlingskreisen aber eher die Funktion eines Konsulats. Rund hundert Leute, die um 9 Uhr morgens an einem Wochentag im Oktober geduldig auf der Treppe ausharren, wollen sich als Rückkehrwillige registrieren lassen. Auf Fragebögen nehmen MitarbeiterInnen des Komitees die Personalien der Leute auf, lassen sich schildern, wo die Flüchtlinge herkommen, und wohin sie zurückwollen.
„Diese Unterlagen geben wir dann an die amerikanische Botschaft in Belgrad weiter, damit diese sie an die kroatische Regierung weiterleitet“, beschreibt Biserko den Weg der Komiteediplomatie. Eine Reaktion ist bislang allerdings noch nicht gekommen. „Damit haben wir aber im Moment auch noch nicht gerechnet.“ Auf die Frage, ob sie denn bei einer positiven Antwort aus Zagreb tatsächlich in ihre Dörfer zurückkehren würden, zögern die meisten dann doch erst einmal mit einer Antwort. „Die internationale Gemeinschaft muß unsere Sicherheit garantieren.“ Wie das genau aussehen soll, wissen sie jedoch auch nicht. Nur, „allein auf Versprechungen von Tudjman kann man sich ja nicht verlassen“. Täglich sind die Belgrader Zeitungen, auch die der Opposition, voll mit Berichten über Mord und Totschlag an den in Knin und Umgebung gebliebenen Serben. „Dagegen muß die UNO, müssen die Amerikaner und vor allem die Deutschen doch auch protestieren. Warum werden immer nur wir angegriffen“, empört sich eine Frau aus Banja Luka.
Doch sowenig es in Bosnien und Kroatien auf einer Seite immer nur Opfer oder nur Täter gibt, sind die Flüchtlinge in Serbien nur Opfer. Marko Klajajić, katholischer Priester in Petrovaradin, einem Vorort von Novi Sad, 150 Kilometer nördlich von Belgrad, hat da ganz andere Erfahrungen gemacht. „Erst vor vier Wochen hat eine Gruppe junger Männer, die zu den Krajina- Flüchtlingen gehörten, mitten in der Nacht versucht, die Tür des Pfarrhauses aufzubrechen und dann die Scheiben eingeworfen.“ Klajajić ist als einziger von vier Priestern in der Gegend geblieben. Schon seit 1991 ist die kroatische Minderheit in der Wojwodina, der ehemals autonomen Region im Norden Serbiens, unter starken Druck. „Jedesmal, wenn Serben in Kroatien gehen mußten, haben wir das hier zu spüren bekommen“, erzählt Klajajić. Vor allem in den Dörfern und Städten entlang der Grenze nach Ostslawonien wurden Kroaten und Ungarn, die ebenfalls eine starke Minderheit in der Wojwodina stellen, von Serben vertrieben.
Wie das vor sich geht, erklärt Emil Gion, stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Liga der Wojwodina, so: Bewaffnete Milizen aus der Krajina fahren mit einem ganzen Trupp, oft mehr als fünfzig Mann, in einem Dorf vor. Sie haben oft sogenannte Šešelj-Listen bei sich, aus denen hervorgeht, in welchen Häusern Kroaten oder Ungarn leben. Die Leuten werden dann massiv bedroht und aufgefordert, ihre Häuser in einem Tag oder auch in wenigen Stunden zu verlassen. Die Listen stammen von einer Volkszählung im Jahre 1991 und wurden von dem Rechtsradikalen Šešilj, der damals mit Milošević zusammenarbeitete, an die Seite geschafft und an seine Sympathisanten weitergegeben.
Die Liga hat ein Merkblatt herausgegeben und verteilt, in dem aufgelistet wird, wie man sich im Fall einer angedrohten Vertreibung verhalten soll. „Keine Panik bekommen, sofort die Nachbarn verständigen, eine Notrufkette organisieren“, sind die wichtigsten Tips. „Manchmal“, sagt Gion, „hat auch die Polizei geholfen. Aber wenn die Polizei weg ist, kommen die Marodeure zurück.“ Da muß man sich schon selbst helfen. „Zufällig, wirklich zufällig“, erzählt Emil Gion, „hatte ich eine Handgranate im Haus, als zwei serbische Tschetniks eines abends bei mir auftauchten. Als sie gesehen haben, wie ich den Sicherungsstift abziehen wollte, sind sie abgehauen.“
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