Kampf um die letzten Nischen

■ Die Chancen und Fallen des Internets / Rückblick auf das Neue-Medien-Symposion „Interface 3“

Es endete mit einem Orgasmus: Nach drei Tagen vorwiegend professoraler Argumentation transformierte Allucquere Roseanne Stone am Ende des Symposions Interface 3 die Vagina ihres virtuellen Körpers in ihre Handinnenfläche und führte so eine manuelle Selbstbefriedigung vor. So brachte sie durch ihre starke physische Präsenz das mit ausgeteilten Pfeifen befreiend lärmende Publikum aus den elektronischen Räumen zurück zum Körper.

Doch dieser Körper ist natürlich einer ohne Präsenz. Denn in der weltweiten Vernetzung muß sich ein Begriff des Individuums auflösen. Das Subjekt mutiert dort zum Datenkörper, während künstliche Datenwesen immer komplexer werden, so daß sie ein eigenes Leben entfalten. Über solche Programme, Agenten oder Bots genannt, die Wünsche und Aufträge des Benutzers speichern und diese im Internet zu befriedigen suchen, berichtete Patie Maes, die am MIT in Cambrigde, USA, an solchen selbständigen elektronischen Butlern arbeitet.

Technokraten und Alt-Hippies, Wissenschaftler, New-Age-Propheten und die Wirtschaft, das zeigte dieser kleine Kongreß, kämpfen um die Gestaltung der elektronischen Zukunft. Dabei ist die Idee, den Kommerz ausschließen zu können, wohl schon jetzt ausgeträumt. Aber um die Besetzung der Nischen wird noch heftig gestritten.

Leider wird dabei allzu oft mit unklaren Begriffen argumentiert. Nur wenige sind imstande, zugleich innerhalb und außerhalb eines Systems zu denken, um Transparenz in das Thema zu bringen. Die Vernetzung der Welt durch das Internet wie der interdisziplinäre Ansatz eines solchen Symposions schlagen gleichermaßen Brücken zwischen Bereichen, die traditionell bemüht sind, sich mit fachspezifischen Erkenntnistechniken abzuschotten. Da bleibt das Hauptproblem, die richtigen Links (Verknüpfungspunkte) und Interfaces (Schnittstellen) zu finden – in der persönlichen wie in der digitalen Kommunikation. Die erhoffte Chance, mit dem neuen Medium auch neue Inhalte zu formen, ist philosophisch gesehen minimal.

Gott sei Dank werden bei der Übertragung des alten Wissens ins System so viele produktive Fehler gemacht, daß die Möglichkeit evolutionärer Innovation bestehen bleibt. „Das Mißverständnis ist die Seele der Kommunikation, die Klärung ihr Tod“, so der Hamburger Kultur-Psychologe Hugo Schmale. Dabei tut es einem sich so explosionsartig verändernden System gut, doch gelegentlich seine Grundlagen erinnernd zu klären.

Sind wir vielleicht in der seit zweihundert Jahren relativ simpel gedachten Analogie Netz = Gehirn gefangen, wie der Medizinhistoriker und Neurobiologe Olaf Breidbach fragte? Ist die ganze Wissenschaft seit Descartes ein folgenschwerer Irrtum, wie es der verwirrend kreative, alternative Wissenschaftler Otto E. Rössler in seinem brillanten Hypertext-Vortrag ausführte? Ist das Netz eine eigene Gnosis, ein Erkenntnissystem oder nur geeignetes Mittel für Kunst und Poesie? Wie verändert es den Begriff vom Körper? Und was bedeutet es, daß das Internet von den US-Militärs entwickelt wurde?

Alle diese Fragen der erstmalig durch Videoübertragung und buntes Rahmenprogramm auch dem größeren Publikum geöffneten Veranstaltung haben ihre Zielgruppe noch nicht ganz erreicht. Sowohl im Sitzungsraum wie in den mit Computern bestückten Räumen des Kunstvereins hätten problemlos mehr als doppelt soviele Teilnehmer Zugang gehabt, um sich von der Breite der Diskussion anregen zu lassen, die hier kaum ansatzweise wiedergegeben werden kann.

Kulturkritisch ist eine Tatsache sicher besonders deutlich: Englisch ist unbestritten die alleinig verbindliche Sprache bei der dritten, der elektronischen Kolonialisierung der Welt. Tendenzen zum Pidgin und zur Fetischisierung bestärken dies nur. Selbst der Widerspruch gegen die falschen Versprechnugen des weltumspannenden Netzes – wie sie in einer selten grundlegenden Kritik am „Pankapitalismus“ von Steven Kurtz aus Chicago formuliert wurde – kommt aus einem „Zentrum“ (der USA), das es im globalen Netz nur angeblich nicht mehr gibt. Von der beiläufigen Verwunderung eines Vortragenden über das hier benutzte Equipment, das in Amerika viel besser sei, bis zum multimedialen Zugriff von Time-Warner und anderer Medienriesen auf das formal demokratische Netz wird schnell klar: Die Formen und Inhalte der Zukunft, wie immer sie im Detail ausschaut, werden US-amerikanisch sein.

Hajo Schiff