Die verschwundene Bingo-Beute Von Ralf Sotscheck

Als der Bus von der Haltestelle abfährt, entweicht eine riesige schwarze Rauchwolke aus dem Auspuff und hüllt die Umgebung vorübergehend in Dunkelheit. In der Dubliner Innenstadt ist es besonders schlimm: Fast alle Busse müssen durch die O'Connell Street, Dublins Hauptstraße. Messungen haben jetzt ergeben, daß die Luftverschmutzung durch Autoabgase im Zentrum der Hauptstadt manchmal die EU-Höchstgrenze um das zehnfache überschreitet. Wenn die Doppeldeckerbusse in der Eigenwerbung „grüne Flotte“ heißen, ist damit also lediglich die Lackierung gemeint.

Der Qualm sei trügerisch, meint der Pressesprecher der Busgesellschaft, Joe Collins. Das Benzin sei reiner, als gesetzlich vorgeschrieben. „Es ist ja nicht der Qualm, der gesundheitsschädlich ist“, sagt Collins, „sondern die winzigen Schwebeteilchen.“ Bis 1999 soll dennoch die gesamte Flotte mit „grünen Motoren“ ausgerüstet sein. Hoffentlich meint er das nicht wieder wörtlich.

Dubliner Busse stinken nicht nur, sie sind obendrein niemals pünktlich. Große Heiterkeit erregten die sogenannten Fahrpläne, die im vergangenen Jahr erstmals an den Haltestellen aufgehängt wurden. Doch Unpünktlichkeit hin, Abgase her: Zumindest arbeiten bei der Busgesellschaft Menschen, die einem den Glauben an das Gute im öffentlichen Transportarbeiter wiedergeben – vor allem, wenn man jahrzehntelang den Berliner Verkehrsbetrieben ausgeliefert war, bei denen hochgradige Vermuffelung offenbar zur Berufsqualifikation gehört.

Neulich jedenfalls fuhr meine Schwiegermutter nach ihrem allabendlichen Bingospiel mit dem Bus nach Hause. Als Rentnerin darf sie die öffentlichen Transportmittel kostenlos benutzen. Weil sie das für ein persönliches Entgegenkommen der Busfahrer hält, steckt sie ihnen jedesmal eine Handvoll Bonbons zu. Diesmal hatte sie außerdem die Bingo-Beute, einen Zwanzig-Pfund-Schein, in der Manteltasche. Als sie zu Hause ankam, war er weg. Der Geldschein müsse versehentlich mit den Bonbons herausgerutscht sein, meinte sie. Macht ja nix – der Fahrer würde das Geld natürlich im Fundbüro abgeben, glaubte sie. „Den siehst du nie wieder“, höhnte dagegen ihre Tochter, meine Gattin, und versuchte vergeblich, sie von der Schnapsidee abzubringen. Schließlich begleitete sie die Mutter zum Busbahnhof.

Die Frau am Schalter war in Anbetracht der grenzenlosen Gutgläubigkeit zunächst verblüfft, rang sich dann aber zu einem Anruf in der Verwaltung durch. Schwiegermutter schilderte dem Abteilungsleiter den Fall, und der antwortete ohne zu zögern: „Selbstverständlich wurde das Geld abgegeben.“ Dann wies er die Schalterbeamtin an, zwanzig Pfund herauszurücken, und Schwiegermutter meinte triumphierend: „Siehste!“

In Wirklichkeit tauchte der verschwundene Bingo-Schein am nächsten Tag zusammengerollt in ihrem Handschuh auf, aber davon weiß sie nichts. So werden auch in diesem Jahr die Fahrer der Linie 19, die an ihrem Haus vorbeiführt, am zweiten Weihnachtsfeiertag wie üblich mit Whiskey und Christstollen bewirtet. Alle 20 Minuten hält dann ein vollbesetzter Doppeldecker vor der Tür, und während der Fahrer sich labt, müssen die Fahrgäste draußen warten.