: Schreckliche und glückliche Begegnungen im Labyrinth
■ Der Sinn der philosophischen Pädagogik Gilles Deleuze' lautete nicht: Mache es wie ich, sondern: Mache es mit mir zusammen
Deleuze hat das Unlehrbare gelehrt, hat Pierre Klossowski einmal gesagt. Und so hatten es die erfahren, die Deleuze noch hören konnten: Es begann – in jenen stets überfüllten Seminarräumen im Pariser Vorort Saint-Denis – mit einem Text, mit einer Frage oder einer Beobachtung, und bald war man fortgerissen auf einem Weg des Denkens, auf dem sich nichts wiederholte, auf dem sich das Bekannte zum Unerhörten, das Gewußte zur erneuten Frage und die alten und großen Namen der Philosophiegeschichte zu neuen, ein wenig verschobenen Merkzeichen wendeten. Gerade und gewohnte Linien wurden labyrinthisch, das Labyrinthische aber zum Ort, an dem das Denken Begegnungen machte, schreckliche oder glückliche Begegnungen, mit plötzlichen Hemmungen und Hindernissen ebenso wie mit Leichtigkeiten und Tänzerischem.
Deleuze hat das Unlehrbare gelehrt – was heißt, die Philosophie gegen die Philosophie, die Geschichte gegen die Geschichte, das Denken gegen das Denken lehren. Denn kein Lernen – und das lernte man bei Deleuze – hat etwas mit Nachahmen und Nachmachen zu tun. Lernen ist nicht jene blasse und disziplinierte Tätigkeit, die Vorgegebenes repetiert, Fragen beantwortet und erledigt, Wissen akkumuliert und verwaltet, um es dann in kleinen Portionen wieder abzusondern. Lernen ist zunächst vielmehr aktives Vergessen, wie Deleuze es zuweilen vorführte. Vergessen, daß man immer erst im Namen aller anderen sprechen muß, bevor man im eigenen Namen spricht; vergessen, daß man eine Geschichte und mit dieser Geschichte eine Bürde hat; vergessen schließlich, daß sich alles um Wahrheit und Irrtum, richtig und falsch dreht. Nein, sagt Deleuze, es geht vor allem ums Handeln, ums Tun, ums Verwirklichen und Gegenverwirklichen; man schreibt, man denkt, man lernt nur auf der äußersten Spitze des Nichtwissens, auf jener Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt.
Somit war Deleuze niemals Vorbild, niemals Begründer einer Schule, niemals eine jener Autoritäten, die ein gesättigtes Werk zum Nachlaß und zur Nachlaßverwaltung bietet. Nichts will hier Vorbild und Modell sein, nichts will hier imitiert werden, oder besser: Vorbild und Modell ist das deleuzianische Denken nur in der Weise, wie er selbst Vorbilder und Modelle gesucht hat. So hat Deleuze nicht über Spinoza und Leibniz, nicht wie Nietzsche und Foucault geschrieben. Er hat vielmehr mit ihnen geschrieben, auf der Suche nach jenem Augenblick, in dem das eigene Wort zum fremden, das Fremde aber zur Maske des eigenen wird. Der Sinn der philosophischen Pädagogik von Gilles Deleuze lautet nicht: Mache es wie ich, sondern: Mache es mit mir zusammen. In größter Nähe die Unterschiede inszenieren – das macht die Affirmationskraft dieses Werks aus, das die verschiedenen Personen, Namen, Figuren und Begriffe der Philosophiegeschichte herbeiruft, vorführt, auftreten läßt und verfremdet: ein episches Theater der Philosophie.
Die Philosophie, die man mit Deleuze lernte, ist also eine Art radikaler Unterscheidungskunst. Eine Unterscheidungskunst, die nicht auf verläßliche Einteilungen rekurriert; die nicht schon weiß, was denken bedeutet; die nicht ein vorgefaßtes Bild des Denkens, des gesunden Menschenverstands und des Gemeinsinns reproduziert. Und diese Unterscheidungskunst ist dann eine politische Kunst, wenn sie zu den Unterscheidungen führt, die man an sich selbst vollzieht. Darum stand und steht bei Gilles Deleuze über allem die Frage, die er wie kein anderer zum Ausdruck und zum Argument, zur pädagogischen und philosophischen Frage verstärkte, und zwar in seinem Unterricht ebenso wie in seinen Büchern: Werdet ihr wirklich fähig sein, Begegnungen zu machen, Ereignisse zu erzeugen? Werdet ihr wirklich fähig sein zu werden, anders zu werden, als ihr seid? Joseph Vogl
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