: Der Inferno-Effekt
Apokalyptiker und Integrierter zugleich: Mike Davis hat in der Geschichte von Los Angeles gegraben – und dabei die Zukunft gefunden ■ Von Mariam Niroumand
Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volkes war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern. Jerusalem hat sich versündigt; darum muß sie sein wie ein unreines Weib. Alle, die sie ehrten, verschmähen sie jetzt. Die Straßen nach Zion liegen wüst, weil niemand auf ein Fest kommt. Alle Tore der Stadt stehen öde, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sehen jammervoll drein, und sie ist betrübt. Ihr Unflat klebt an ihrem Saum.“
Das Klagelied des Jeremias über den Fall Jerusalems hat die wichtigsten Topoi der Großstadt- Apokalyptik schon bereitgestellt. Die Stadt als im Luxus schwelgende Frau, die ihre Verehrer so lange blendet, bis die schreckliche Gottesstrafe auf sie herniederfährt, bis der ganze trügerische Firlefanz als das daliegt, was er schon immer war: Schmutz, Schund, zum Glitzern gebrachter Staub. Die später so häufig benutzten, von der Naturerfahrung geborgten Metaphern finden sich auch schon; zur Wüste und dem kalten Stein wird noch das Häusermeer und der Großstadtdschungel hinzukommen, immer gepaart auch mit der schaurig-ergreifenden Erfahrung des Erhabenen.
Ihre Priester seufzen. Die Sänger dieses Liedes, die Liebhaber der Hure Babylon – in der Moderne naturgemäß vor allem die städtische Intelligenz – schwanken zwischen Apologetik (Georg Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben“ und seine „Philosophie des Geldes“) und Mahnertum (Alexander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Anstiftung zum Unfrieden“, dieser Tage beerbt von Richard Sennetts groteskem „Stein und Fleisch“). Aber wenn sie nicht gerade Haussmann hießen, hatten diese Redner immer eine externe Sprecherposition: man ist eben nicht gleichzeitig Apokalyptiker und Integrierter.
Mike Davis nun – Ex-Fernfahrer, Ex-Schlachthofgehilfe, Ex- Gewerkschafter und Herausgeber der New Left Review – ist Autor des in Amerika vielgerühmten „City of Quartz“. In dieser profundesten Stadtchronik, die je für Los Angeles geschrieben wurde, hat Davis das Kunststück vollbracht, eben doch beides zu sein. Utopie und Dystopie sind für ihn in Los Angeles ineinander verspiegelt wie die Flächen des titelgebenden Gesteins; indem man die Vergangenheit der Stadt ausgräbt, bleckt einem ihre Zukunft entgegen. Und da Los Angeles, wie Davis meint, überall ist (jedenfalls ein bißchen davon), hat seine manisch-depressive, zehnjährige Recherche nicht zuletzt auch denen etwas zu sagen, die über Berliner Leuchttürme und Passagen nachdenken.
Was mehr ist: er ruft den Mahnern, Apologeten und Apokalyptikern zu, daß ihre Meinung zählt und daß ein Grund für die finsteren Zukunftsaussichten der Stadt aus Quartz die Weigerung der Intellektuellen ist, sich dieser „Witwe, Fürstin unter den Völkern“ wirklich anzunehmen. Man erntet „Unglauben, wenn nicht gar Heiterkeit, sobald man von ,Intellektuellen in Los Angeles‘ spricht. (...) Vor allem gilt Los Angeles kulturell gewöhnlich als seltsam unfruchtbarer Boden, der bis heute keine einheimische Intelligenz hervorgebracht hat. Im Gegensatz zu San Francisco mit seiner ausgeprägten Kulturgeschichte von den Goldsuchern bis zu den Beats wirkt die einheimische Geistesgeschichte von Los Angeles wie ein unwirtliches Gestade.“
Andererseits, so weiß Davis, ist diese Einöde zugleich die Stadt, in der seit den zwanziger Jahren an einer Kulturindustrie gigantischen Ausmaßes gebaut wurde, von der die talentiertesten Schriftsteller, Filmemacher, Künstler und Visionäre angezogen wurden. Nach ihnen kamen in den 40er Jahren die Starphysiker und Ingenieure der international besetzten think tanks der südkalifornischen Raumfahrtindustrie; nirgendwo auf der Welt sind so viele von ihnen auf so engem Raum versammelt. Nirgendwo anders als dort konnte auch die spezielle Mischung aus „real science und real religion“, Einstein und Nostradamus, entstehen, wie zum Beispiel in der „Scientology“-Sekte Ron L. Hubbards.
Warum aber sollte sich eine Stadt, deren Ausdehnung inzwischen fast die Größe von Irland und längst das Bruttosozialprodukt von Indien erreicht hat, darum scheren, was diese Geistes- Gastarbeiter von ihr halten?
Weil, so glaubt und hofft Davis mit der Verzweiflung des Apokalyptikers wider Willen, Mythologie in Los Angeles zu Topographie wird. „Es geht mir (...) nicht so sehr um die Geschichte der in Los Angeles produzierten Kultur als um die Geschichte der über Los Angeles produzierten Kultur – besonders da, wo sie zur materiellen Kraft in der tatsächlichen Entwicklung der Stadt geworden ist.“
Man wünscht sich Davis nach Berlin oder Bonn, wenn man ihn dann bei der Arbeit an den Details beobachtet, an der Beschreibung verschiedener intellektueller Grundpositionen, die für ihn noch heute mindestens ein „Spekulationsdesign“ abgeben. Es empfiehlt sich, sie für den späteren Hausgebrauch im Auge zu behalten und schon mal Namen wie Dieter Hoffmann-Axthelm, Wim Wenders, Daniel Libeskind, Helmut Kohl oder Michaele Schreyer an ihnen durchzuspielen.
Da sind zunächst die „Boosters“, also die Claqueure, ein starker Trupp von Unternehmern, Schriftstellern, Architekten und Antiquaren, die in den zehner und zwanziger Jahren kamen, um auf den Ruinen der vorgefundenen spanischen Kultur eine mediterranisierte Version des Neuengland- Lifestyles zu errichten. Sie hatten sowohl Nietzsche und eine bestimmte Vorstellung ethnischer Sauberkeit im Gepäck als auch ein romantisches Missionsmotiv, dessen Baustil auf die „Kathedrale in Holz“ zulief und sich heute in der neuen „Ronald Reagan Presidential Library“ in Simi Valley wiederfindet.
Ihnen folgten die Leute, denen Davis' mehr oder weniger heimliche Sympathie gilt: den „Entlarvern“, meist Mitglieder des „Progressive Movements“, einer reformistischen, hedonistischen und betont urbanen Arbeiterbewegung, von der bedauerlicherweise heute nicht mehr allzuviel übriggeblieben ist. Anfang und Ende von „City of Quartz“ sind eingerahmt von den beiden einzigen Versuchen, die in Los Angeles zur Realisierung des Jeffersonischen Traums, wie ihn eindeutig auch Davis träumt, unternommen worden sind. Vom Mai-Feiertag 1917 in der Mojave-Wüste, wo einst ein kleines Sozialisten-Kollektiv lebte, heißt es: „Das Fest (...) begann um 9 Uhr morgens mit athletischen Aktivitäten, darunter einem Rennen für dicke Frauen. Anschließend formte die ganze Gruppe eine Parade, die zum Hotel zog, in dem das Literaturprogramm stattfand. Die Band spielte von einem bunt behängten Podium, der Chor sang passende revolutionäre Hymnen wie die ,Marseillaise‘, dann ging es zum Grill. (...) Den Rest des Abends wurde getanzt.“ Hier scheint für einen Moment die Utopie im Quartz auf, für die Davis mit aller Macht eine Rainbow Coalition herbeizuschreiben versucht.
Das ideologische Hauptanliegen der „Entlarver“ war es, das Missionsmotiv der „Boosters“ und seine Architektur als „Gartenidyll“ und also antistädtisch zu enttarnen. Auch Alfred Döblin soll sich, befragt nach seinem Eindruck von der suburbanen Lebensart, einigermaßen pikiert geäußert haben: „Nun gut, man ist sehr viel und ausgedehnt im Freien – aber bin ich vielleicht eine Kuh?“
Kulturell am wirksamsten und wahrscheinlich am nachhaltigsten in unsere Großstadtvorstellungen eingegangen ist die dritte Gruppe von „Mythologen“, die Davis „Noirs“ nennt. Ein Produkt der Depression, die paradoxerweise vor allem genau die Mittelklassen traf, die den langen südkalifornischen Boom mit ihren Ersparnissen abgepolstert hatten. Eine Industrie, deren Arbeiter sie hätte
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
treffen können (reflektiert in Romanen wie „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos), gab es noch nicht. „Wenn der Postmann zweimal klingelt“, „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ oder die films noirs „Double Indemnity“ und „Mildred Pierce“ erzählten von „vergifteten weißen Vorstadt- Bungalows“, den endlos monotonen schönen Tagen, die nie ein Regen störte; undurchschaubaren Verhältnissen; schließlich lagen sogar Damen im See. „Chandlers Marlowe symbolisierte den kleinen Geschäftsmann, der sich mit Gangstern, korrupten Polizisten und reichen Parasiten (meist seinen Auftraggebern) herumschlagen mußte – eine romantisierende Verklärung von Chandlers Verhältnis zu den Schundautoren und Moguln in den Studios.“
Später natürlich, als die hardboiled novels von linken, am deutschen Expressionismus geschulten Immigranten verfilmt wurden, war der Schauplatz nicht mehr die Suburbia aus „Wenn der Postmann ...“ Es war Bunker Hill, das Herz der Stadt, das plötzlich als verrottender Kern aus Korruption, organisiertem Verbrechen und alles beherrschender Gewalt besteht – wie Davis sagt, „marxistisches cinéma manqué“, Kino für Enttäuschte. Charles Bukowski, Joan Didion, „Chinatown“, der „Blade Runner“ und natürlich Thomas Pynchon (mit dessen „Enden der Parabel“ der Auftakt von „City of Quartz“ eine sicher nicht ungewollte Ähnlichkeit hat) sind die Erben dieser Noir-Sensibilität.
Hauchzart ist aus Davis' Beschreibungen des Noir herauszudestillieren, daß er für ihn eine Art guilty pleasure ist, eine Ästhetik, zu der ihn die eigene düstere Neigung zieht, der sich sein reformistisches Gemüt aber verweigern muß. Vorschläge zur Stadtsanierung sind Romanen wie Pynchons „The Crying of Lot 49“ oder Bret Easton Ellis' „American Psycho“ nicht abzugewinnen.
Das Kapitel über die Rolle der Exulanten schließlich, vor allem Adornos, Horkheimers und Brechts, wird eingeführt mit der Information, daß es Arnold Schönberg zur Weißglut trieb, wenn die Passagiere in den Touristenbussen, die häufig durch seine Straße fuhren, immer auf das Haus gegenüber aufmerksam gemacht wurden, das von Shirley Temple nämlich, seines aber regelmäßig links liegenblieb. Als „Noir mit einer hegelianischen Politur“ bezeichnet Davis, was Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ aus ihrer Begegnung mit Los Angeles werden ließen, und das, wie er bitter anmerkt, ohne jemals wirklich in Kontakt mit den Angelinos getreten zu sein: „Sie bildeten eine Miniatur-Gesellschaft in einem selbstauferlegten Ghetto, die sich an ihren aus der Alten Welt mitgebrachten Vorurteilen festhielt wie an einem Rettungsring.“ Daß es keine europäische (oder wenigstens manhattanähnliche) Civitas gab, daß öffentliche Plätze, sophisticated crowds, historische Stätten und vor allem natürlich kritische Intellektuelle fehlten, führte zur Vorstellung von Los Angeles als der Antistadt schlechthin. Dazu trug nicht wenig die Tatsache bei, daß in den Köpfen der meisten Immigranten Los Angeles und Hollywood permanent miteinander identifiziert wurden. In der „Dialektik der Aufklärung“ wird Los Angeles zur Kristallkugel des Kapitalismus.
Den besonderen Haß der Beobachter, die weder von den Streiks in der kriegswichtigen Industrie noch von dem nicht unerheblichen Nachtleben der Stadt Notiz nahmen, zogen die Einfamilien-Bungalows der Vorstädte auf sich, in denen das revolutionäre Subjekt eingekäschtelt und diszipliniert wurde. Und Bert Brecht schrieb: „Nachdenkend, wie ich höre, über die Hölle/ Fand mein Bruder Shelley, sie sei ein Ort/ Gleichend ungefähr der Stadt London. Ich/ Der ich nicht in London lebe, sondern in Los Angeles/ Finde, nachdenkend über die Hölle, sie muß/ Noch mehr Los Angeles gleichen./
Auch in der Hölle/ Gibt es, ich zweifle nicht, diese üppigen Gärten/ Mit den Blumen, so groß wie Bäume, freilich verwelkend/ .../ Und endlose Züge von Autos/ Leichter als ihr eigener Schatten, schneller als/ Törichte Gedanken, schimmernde Fahrzeuge, in denen/ Rosige Leute, von nirgendwoher kommend, nirgendhin/ Fahren“ (1941).
Hier sind sie alle wieder, die biblischen Warnungen: vor dem selbstvergessenen Luxus (üppige Gärten klingt doch irgendwie auch wieder ein bißchen nach Frau, oder?), der eigentlich fauligen Pracht, der verdörrten Natur, der schattenlosen Freude, die nur Dumpfsinn sein kann. Und natürlich der moderne Antiamerikanismus, die Vereinigten Staaten hätten keine Geschichte und also auch keine Teleologie, kämen nirgendwoher und gingen also auch nirgendwohin. Dabei, so ruft ihm Davis zu, hätte er hier mal ein echtes Mahagonny erleben können, echtes Lumpenproletariat, Boyle Heights Tanzclubs und Wilmington Honky Tonks und und und.
Demselben Brecht, der noch in Berlin den Tod des Autors und statt dessen die Errichtung des künstlerischen Kollektivs gefordert hatte, paßte plötzlich die ganze Richtung nicht mehr, als er den „taylorisierten Broterwerb“ der Drehbuchautoren für Hollywood sah. Daß diese Immigranten zehn Jahre später, im Kalten Krieg, die Sündenböcke für die Hollywood-Inquisition abgaben, steht auf einem anderen Blatt.
Nicht ohne eine gewisse Bitternis stellt Davis fest, daß die Tragödie der deutschen Exulanten sich heute als Farce der philosophierenden Touristen aus Frankreich (heute heiß an der UCLA gehandelt) wiederholt. Ein Lokalredakteur wird zitiert: „Baudrillard scheint sich gut zu amüsieren. Er liebt es, die Liquidation der Kultur mitzuerleben, die Befreiung aus der Profundität... Wenn er nach Frankreich zurückkehrt, findet er dort ein malerisches Land des 19. Jahrhunderts. Er kommt zurück nach Los Angeles und fühlt eine perverse Überschwenglichkeit. ,Nichts gleicht einem Nachtflug über Los Angeles. Nur Hieronymus Boschs Hölle hat so einen Inferno-Effekt.‘“
Fehlt noch die Pop-Avantgarde – der Experimentalfilmer Kenneth Anger, der Bildhauer Edward Kienholz, die Jazz-Guerilla um Coleman und Dolphy –, die aber, zu Davis' Enttäuschung, in kürzester Zeit von den „Boostern“ einverleibt und umgewidmet wurde.
Die dunkle Bilanz: Während die verbleibende Intelligenz an der UCLA sich mit postmodernen Philosophien beschäftigt, die von einer permanenten Expansion des virtuellen Raums ausgehen, ist niemand mehr da, über den Verlust des realen, öffentlichen Raums in Los Angeles zu reden: „Willkommen im postliberalen Los Angeles, wo die Verteidigung eines luxuriösen Lebensstils sich in immer neuen Einschränkungen der Raum- und Bewegungsfreiheit umsetzt, immer unterstützt natürlich durch die allgegenwärtige bewaffnete Reaktion. Diese Obsession für Sicherheitssysteme, die mit der architektonischen Durchsetzung sozialer Grenzen einhergeht, ist zum Zeitgeist urbaner Neustrukturierung geworden, zur Meistererzählung der gebauten Umwelt der neunziger Jahre.
Die gegenwärtige Stadttheorie aber, ob sie nun eher über die Rolle elektronischer Technologien bei der Entwicklung eines postmodernen Raumes oder über die Verteilung urbaner Funktionen über polizentrische Galaxien der Metropole diskutiert, schweigt sich seltsamerweise über die Militarisierung des Stadtlebens, wie sie einem ständig schroff entgegenschlägt, aus. Hollywoods Pop- Apokalypsen und Pulp-Science- fiction waren realistischer und politisch scharfsichtiger... Bilder von segregierten Innenstädten (,Flucht aus New York‘), High-Tech-Todesschwadronen der Polizei (,Blade Runner‘), [natürlich heute auch ,Judge Dredd‘, d. A.], mit Sensoren ausgestattete Gebäude (,Die Hard‘), städtische Bantustans (,They Live!‘), vietnamähnliche Straßenkriege (,Colors‘) und so weiter – all diese Filme bedienen sich nur bereits existierender Trends.“
Ein paar Kapitel lang hält Davis seine Leser mit Schilderungen eines Wahnsinns in Schach, die einen hoffen lassen, der Autor könne vielleicht wirklich nur ein besonders belesener Paranoiker sein. Aber einem Paranoiker mit dieser Art von Materialfülle ist schwer beizukommen. Im Gegensatz zu den von ihm beschriebenen Kulturpessimisten – die die Stadt schon aufgegeben hatten, bevor sie sie überhaupt besser als nur impressionistisch kannten – ist Davis in all ihren Archiven, Gefängnissen, Parks, Zeitungsredaktionen und Lounges gewesen und gibt das Ergebnis wöchentlich an Architekturstudenten weiter.
Beirutstarke Privatarmeen, Privatgefängnisse, sensorengesteuerte Überwachungskameras, Straßen für Obdachlose, deren nächtlichen Besuch man praktisch nicht überleben kann; sichtbare und unsichtbare Mauern, die bestimmte öffentliche Plätze zu privaten machen, fliegende Polizeieinheiten, die Hubschrauber haben, deren Infrarotlicht eine Zigarette erkennt und die selbst Spotlichter werfen können, die die Nacht zum Tage machen – das ist das Szenario, mit dem es Davis' Regenbogenkoalition aufnehmen müßte.
Zentralisierung, Zerstreuung unkontrollierbarer Massen in einzelne, identifizierbare Bürger – Davis sieht die Haussmannisierung von Los Angeles herannahen und hört wenige Stimmen (außer seiner eigenen), die dies deutlich genug sagen. Wer einen literarischen Beweis für die Richtigkeit seiner Vermutungen sucht, werfe einen Blick in den neuesten Roman von Bret Easton Ellis, „Die Informanten“. Er liefert die Innenansichten zu dem Szenario, von dem Davis uns die Hülle gezeigt hat. In zwölf Vignetten stellen sich die Anlieger der Swimmingpools in Bel Air vor. Sie sehen ihre hispanischen Gärtner wie hinter Glas, stets unter einem Valiumschleier. Wie eingesperrt in Hockneys Pastell-Szenarien wüten sie gegen Ende des Buches ein wenig grauseliger vor sich hin, erstechen Teenager, wühlen in Eingeweiden, kastrieren Rivalen in der Wüste. Das misanthrope Schauermärchen von Los Angeles endet – im Zoo.
Mike Davis: „City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“. Fotos von Robert Morrow. Aus dem Englischen von Jan Reise. Schwarze Risse/Rote Straße, Berlin, 517 Seiten, 45 DM
Bret Easton Ellis: „Die Informanten“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, geb., 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen