Wollmilchsau auf Rekordjagd

Auch gegen den deutschen Handballmeister THW Kiel bleibt Tabellenführer Wallau-Massenheim in eigener Halle ungeschlagen  ■ Von Matthias Kittmann

Rüsselsheim (taz) – Unentschieden sind im Handball grundsätzlich eine höchst kontroverse Angelegenheit. Fast immer behauptet mindestens eines von beiden Teams, daß es das Spiel eigentlich hätte gewinnen müssen. Nicht so jedoch nach dem 26:26 zwischen den an der Spitze punktgleichen Mannschaften der SG Wallau- Massenheim und des THW Kiel.

Vier Sekunden vor Schluß stellte sich Meister Kiel beim Stand von 26:26 zu einem letzten Freiwurf vor dem Wallauer Tor auf. Die Halle brodelte, das Spiel stand auf des berühmten Messers nicht minder bekannter Schneide. Kiel hatte innerhalb von zweieinhalb Minuten einen Drei-Tore-Vorsprung verspielt, Martin Schwalb hatte Wallau mit einem Kraftakt wieder herangebracht. Aber Kiels Trainer „Noka“ Serdarusic wollte den Sieg erzwingen. Also winkte er Torhüter Michael Krieter nach vorne. Doch kaum an der Neun- Meter-Linie angekommen, wurde der von dem entgeisterten Spielmacher Magnus Wislander angeschrien. „Bist du wahnsinnig, was machst du denn hier?“ Krieter deutete auf den Trainer, Wislander drehte sich grummelnd um.

Aber selbst Serdarusic wußte nicht so recht, was er von dem Ausgang des Spiels halten sollte: „Wir hätten gewinnen müssen“, begann er, um dann fortzufahren, „aber letztendlich hat die Partie keinen Sieger verdient.“ Wie es tatsächlich in ihm aussah, verdeutlichte seine nächste Aussage: „Vor zwei Jahren ging das hier auch unentschieden aus, aber wir haben sieben Tore aufgeholt. Da habe ich gelacht und erst mal ein Bier getrunken. Jetzt lache ich nicht und trinke Wasser.“

Die beiden Mannschaften, die den deutschen Handball der letzten vier Jahre mit jeweils zwei Meistertiteln dominierten, hatten sich an diesem Samstagnachmittag nach allen Regeln der Handballkunst beharkt. Das mit den Regeln ist wörtlich zu nehmen, denn trotz eines reichlich unsicheren Schiedsrichtergespanns überschritten die Fouls nie die Grenzen des guten Geschmacks. Meistertitel schaffen Respekt voreinander.

„Nach zehn Minuten habe ich auf die Anzeigetafel geguckt und war ganz erschrocken, daß es angesichts der Kieler Fehler nur 6:3 für uns stand“, erzählte Wallaus Martin Schwalb. Als es weitere zehn Minuten später 9:7 stand, „war ich wieder verblüfft, denn mittlerweile machten wir die Fehler und führten trotzdem noch.“ Dann machte Wallau einen Denkfehler: „Wenn wir jetzt wieder weniger Fehler machen, können wir sie überrollen.“ Das Gegenteil trat ein. Kiel führte zur Pause plötzlich mit 15:12, und Wallau-Coach Björn Jilsen stellte lapidar fest: „In dieser Phase haben sie uns auseinandergenommen.“ Sieben Minuten lang blieben die Gastgeber ohne jegliches Tor, denn bei der Aktion „Fehler vermeiden“ ging den Hessen auch die Bereitschaft zum Risiko verloren.

Risiko ist aber der Schlüssel zum überraschenden Erfolg der vor einem Jahr noch abgehalfterten Oldies aus dem „Ländche“. Bodo Ströhmann, die eierlegende Wollmilchsau von Wallau-Massenheim, hatte nach seinem mehr als halbherzigen Rückzug vom Handball in bewährt hemdsärmeliger Art wieder die Zügel in die Hand genommen. Vor zwei Wochen, beim „Schlappekicker- Sporttreff“ der Frankfurter Rundschau, begann er mit den Worten: „Da ich gehört habe, daß diese Veranstaltung zugunsten von alten und kranken Sportlern gemacht wird, habe ich gleich Mike Fuhrig und Martin Schwalb mitgebracht.“

Vor sechs Monaten noch hätte er die ganze Mannschaft mitbringen können. Ganz entgegen seinem Naturell sortierte er die meisten davon, auch aus finanziellen Gründen, vor Saisonbeginn aus. Mit Fuhrig, Schwalb und dem Finnen Mikael Källmann sind nur noch drei Stammspieler der 94er Meistermannschaft übrig. Und diese drei bilden das Gerippe, um das die Neuen, Jungen und Namenlosen wie Marc Baur, Jörg Schulze und Stefan Steinke vom ehemaligen Wallauer Torjäger Björn Jilsen gebaut wurden.

Eine undankbare Aufgabe, denn nirgendwo ist es so schwer wie im Handball, mehr als einen Nachwuchsspieler in eine Spitzenmannschaft einzubauen. Erfahrung ist im deutschen Handball (fast) alles. Aber Jilsen nutzte konsequent die Stärke der Jugend – die Schnelligkeit. Aus einem Team von Rückraumknallern entwickelte er eines der Tempogegenstoßspezialisten. Das Ergebnis: Drei neue deutsche Handball-Rekorde. 40 Tore wie vor kurzem gegen Großwallstadt wurden noch nie in einem Bundesligaspiel erzielt, und daß davon 17 Tempogegenstoßtore waren, ist ebenfalls einmalig. Am Samstag fiel schließlich auch die letzte Bestmarke vergangener Tage – seit 53 Spielen ist Wallau zu Hause ungeschlagen. Ein Remis als Sieg.