Die Revolution der Sonnenschirme

Die Endzeitstimmung von 1994 auf Kuba ist vorbei, Havanna hat die Lähmung abgeschüttelt. Aber in Kubas Gesellschaft tut sich eine neue krasse Ungleichheit zwischen Arm und Reich auf  ■ Aus Havanna Bert Hoffmann

Ausgeblichene Sonnenschirme verkünden die neue Zeit. Sie ersetzen Leuchtschilder und Werbetafeln. Wo ein Sonnenschirm über den Gartenzaun ragt, gibt es: Kaffeeausschank, Kokosplätzchen, Limonade, Guayaba-Gelee, belegte Brötchen, Säfte, Erdnußriegel. An sich wäre das völlig banal, aber nicht in Kuba. Es ist keine zwei Jahre her, da gab es auf den Straßen von Havanna praktisch nichts mehr für Pesos zu kaufen, sondern nur noch die spärlichen Zuteilungen der Rationierungskarte und das, was der Schwarzmarkt hergab. Ein kubanisches Sprichwort sagt: „Niemand leidet mehr Hunger als die Maus im Eisenwarengeschäft.“ Mit den kleinen Verkaufstischen unter den Sonnenschirmen kommt für viele die Hoffnung zurück, daß die Insel langsam wieder zu einem Gemischtwarenladen werden könnte.

Havanna erwacht aus der Lähmung der letzten Jahre zu neuem Leben. Es fahren sogar wieder mehr Autos auf den Straßen. Und allerorten hält die informelle Ökonomie Einzug: Süßigkeiten im Straßenverkauf, Kleinhandwerk aus dem Wohnzimmer, Pizzazubereitung in der heimischen Küche.

Die deprimierende Fluchtwelle vom vergangenen Sommer ist der Gesellschaft in traumatischer Erinnerung geblieben, doch die Untergangsstimmung ist vorbei. Sicher, noch immer wollen viele weg. Vor der Interessenvertretung der USA sammeln sich Tag für Tag Hunderte, um sich in die Schlange für ein Einreisevisum einzureihen. Aber die Habaneros, die jetzt auf aufgepumpten Lkw-Schläuchen aufs Meer rausfahren, versuchen nicht mehr nach Miami zu paddeln, sondern Fische zu fangen, die sie zu Geld machen können. Denn das Gefüge von Preisen und Löhnen ist in Kuba komplett aus den Fugen. Wer drei Fische verkauft, verdient damit in einer Stunde mehr als ein Arbeiter in der staatlichen Industrie in einem Monat.

Josefa etwa ist Computerfachfrau und hat 25 Jahre lang im Zuckerministerium gearbeitet, zuletzt als Leiterin eines Rechenzentrums. Damit verdiente sie 400 Pesos monatlich, einen absoluten Spitzenlohn für kubanische Verhältnisse. Nach dem inzwischen auch offiziellen Wechselkurs sind das ganze 13 Dollar. Sie hat schweren Herzens gekündigt und sich in die Ökonomie der Sonnenschirmstände begeben. Auf einem kleinen Handwerksmarkt am Malecón, der Uferstraße von Havanna, verkauft Josefa heute Geschenkschnickschnack: selbstgebastelte bunte Figürchen aus Ton, die ewige Liebe versprechen oder baldige Genesung wünschen, für umgerechnet 70 Pfennig das Stück. Man will gar nicht anfangen, da den Stundenlohn für die Arbeitszeit auszurechnen. Das ist so bitter wie in so vielen Ländern Lateinamerikas in der Überlebenswirtschaft der armen Leute.

In Kuba aber schlägt der Verkauf der Tonfigürchen die Arbeit im Ministerium um Längen. Wie die ehemaligen KollegInnen mit ihrem Staatslohn noch über die Runden kommen, weiß Josefa nicht. Es ist ja alles so teuer geworden. Ohne einen Nebenverdienst, sagt sie, geht das eigentlich gar nicht mehr.

Die neue Zeit hat neue Helden. Nicht mehr die große Sowjetunion oder die im Kampf gefallenen Revolutionäre sind das Vorbild, sondern Raquel, die Protagonistin der brasilianischen Kitschfilmserie „Todo Vale“, die im letzten Jahr monatelang im kubanischen Fernsehen lief. Es ist die alte Vom- Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte: Am Anfang verkaufte die Aschenbrödel-Raquel kleine Teigtaschen am Strand von Rio, am Ende hatte sie es durch Fleiß und Schweiß zur Besitzerin einer ganzen Restaurantkette namens „Paladar“ gebracht. Die KubanerInnen waren begeistert, und in Windesweile hatte die schwarz betriebene Hinterhof-Gastronomie ihren Namen weg: „Paladares“ ist definitiv in den kubanischen Wortschatz eingegangen.

Seit ein paar Monaten nun hat die Regierung diese Paladares legalisiert – im Prinzip. In der Praxis jedoch ist dies ein zäher Prozeß, und die kubanische Raquel hat mit zahllosen Restriktionen und Auflagen zu kämpfen. Das beginnt bei der Lizenz: Wem eine erteilt wird und wem nicht, darüber entscheidet unter anderem die moralische Befähigung des Antragstellers, zu deren Beurteilung die Meinung des lokalen Funktionärs und des örtlichen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ eingeholt wird. Dann sind den selbständigen Restaurants nicht mehr als zwölf Stühle erlaubt. Und weil die private Beschäftigung von Lohnarbeit nach wie vor ein ideologisches Tabu ist, müssen theoretisch alle MitarbeiterInnen eines Paladar Familienmitglieder sein, die nicht individuell bezahlt werden dürfen.

Roberto Padrón ist dennoch in Aufbruchstimmung. Natürlich, auch er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Fast drei Jahrzehnte lang hat er im kubanischen Filminstitut gearbeitet, Bühnenbilder gemacht und Produktionen organisiert. Etliche der Kollegen sind inzwischen im Ausland, in Miami, New York oder Europa. Padrón blieb dem Filminstitut treu, bis ihn die leeren Staatskassen trafen. Er fand sich in der Kategorie „überschüssiges Personal“ wieder, wurde entlassen. Wenn er davon erzählt, klingt in seiner Stimme noch immer die Frustration und Verbitterung darüber durch.

Inzwischen aber sieht die Welt für ihn wieder freundlicher aus. Er macht Buchhaltung und Bedienung im Paladar „Los Cactus“ in Havannas 33. Straße, vor zwei Monaten eröffnet und einer der am besten ausgestatteten der Stadt. Roberto Padrón arbeitet 16 Stunden am Tag, ist direkt am Gewinn beteiligt und stolz wie ein Pfau. Fast 2.000 Dollar haben sie investiert in Tischdecken und Ventilatoren, neues Geschirr und gebrauchte Kühltruhen. Das Wohnzimmer wurde zum Speisesaal umfunktioniert, die Terrasse im Hof überdacht, das Bibliotheks- und Arbeitszimmer zum Lagerraum. Herausgekommen ist ein Restaurant, das jeder staatlichen Hotelgaststätte Konkurrenz macht.

Genau das ist freilich eines der großen Probleme für den Staat. Er ist auf Wettbewerb nicht vorbereitet. „Sogar Charter-Touristen, die Vollpension gebucht haben“, berichtet ein Funktionär empört, „essen jetzt schon lieber in den Paladares.“ Während in anderen Ländern mühsam Existenzgründungsprogramme für Kleinunternehmer geschaffen werden, ist man in Kuba vor allem um Begrenzung bemüht.

Dabei geht es auch im sozialistischen Kuba nicht mehr um das politische Argument sozialer Gleichheit. Der Staat selbst stürzt sich längst genauso auf die neue Schicht jener Kubaner, die Dollars haben. Alte Cafeterias, in denen es für Pesos nichts mehr zu kaufen gab, wurden umgewandelt in moderne Fast-food-Restaurants, die „Burgui“ oder „El Rápido“ heißen, in Computerkassen abrechnen, 24 Stunden am Tag offen sind und gegen Dollars Hot dogs und Hamburger, Pepsi Cola und Heineken-Bier anbieten.

Aber auch für Pesos gibt es wieder was zu kaufen, nicht nur an den Sonnenschirmständen der Privatimbisse, sondern auch in staatlichen Geschäften. In der Gaststätte an der zentralen Ecke 12. und 23. Straße gibt es sogar Rum und Cocktails für kubanisches Geld, ohne daß sich davor eine Schlange bildet – früher wäre das undenkbar gewesen. Doch der Staat verkauft hier zwar für Pesos, aber zu neuen Preisen. Und die sind für viele unerschwinglich. Castros Wirtschaftsplanern ist zwar die Stabilisierung der Währung gelungen, aber um den Preis ihrer drastischen Verknappung.

Wenn die Regierung eine Jetzt- geht's-aufwärts!-Stimmung verbreitet, bleibt Luis Gutiérrez, Ökonom an Havannas Zentrum für Amerika-Studien, daher skeptisch: „Wir haben gerade erst die Anfänge eines legalen Marktgeschehens, und wir haben dort bereits jetzt klare Zeichen einer Rezession. Die ganzen Stände und Kleinhändler werden immer mehr, aber nicht die Nachfrage. Den einfachen Leuten geht das Geld aus, um dort zu kaufen.“

Hinzu kommt eine extreme Ungleichverteilung des Geldes, wie man sie in anderen Ländern der Dritten Welt, aber nicht unbedingt auch in Kuba vermuten würde. Nicht nur die Dollars konzentriereen sich überwiegend in den Händen einer Minderheit, sondern auch die kubanischen Pesos: Zirka 80 Prozent des kubanischen Geldvermögens, so rechnet Gutiérrez die Schätzungen der Wissenschaftler vor, gehören 15 Prozent der Kubaner. Dies war solange kein Problem für Kubas Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, solange das Geld eine zweitrangige Rolle bei der Warenverteilung spielte. Jetzt aber zerreißt es die Gesellschaft.

Wer Geld hat, der erlebt in Kuba heute ohne Frage einen Aufschwung. Im „Los Cactus“ kosten ein gutes Essen und zwei Bier sieben Dollar. Das ist nicht viel. Aber in Kuba ist es mehr als der durchschnittliche Monatslohn. Und nicht wegen der Reformen, sondern gerade weil diese so ewig aufgeschoben werden, bleiben die eklatanten Ungleichgewichte in der kubanischen Ökonomie bestehen. Und mit ihnen geht die Schere zwischen Habenden und Habenichtsen immer weiter auf.

An der 30 Meter langen Theke des alten „Galliano“-Kaufhauses sitzen die Verlierer. Wie überall sind auch hier die leeren Regale den neuen Preisen gewichen. Ein gefälliger Tisch mit vier Stühlen für 2.000 Pesos zum Beispiel. Die alten Leute, die an der Theke warten, bekommen rund 80 Pesos Rente im Monat. Bei „El Rápido“ gäbe es dafür nicht mal einen Hamburger plus Cola. Aber der Eßtresen im „Galliano“ ist noch eine Insel der alten Zeit. Was es heute gibt, weiß die alte Frau mit der geflickten Brille gar nicht, die wie alle hier schon seit über zwei Stunden ansteht. Aber es kostet nicht einmal ein Hundertstel des Schweineschnitzels im Paladar. Volksküche für die Armen auf kubanisch. Die Alte kommt jeden Tag hierher, von irgend etwas muß sie ja leben.