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Erster Punktsieg für die Angeklagten

Kurz nach neun Uhr war alles vorbei. Nur fünf Minuten dauerte der erste Tag im Prozeß gegen die sechs Politbüromitglieder. Die Verteidigung hält Richter Bräutigam für befangen  ■ Aus Berlin Wolfgang Gast

Der Saal platzte aus allen Nähten, Grüße zwischen Angeklagten und BesucherInnen wurden ausgetauscht, im ersten Streit um Prozeßformalitäten punktete die Verteidigung. Das alles dauerte keine fünf Minuten – und schon war der erste Verhandlungstag vorbei.

Hansgeorg Bräutigam, Vorsitzender der 27. Großen Strafkammer am Landgericht, wird den Prozeßauftakt trotzdem als persönlichen Erfolg verbuchen. Erst einmal hat er das Verfahren gegen Egon Krenz und fünf seiner Kollegen aus dem einstigen SED-Politbüro wegen der Mauerschüsse gestern überhaupt eröffnet. Und daß es soweit kam, war keineswegs so sicher. Bevor Bräutigam das Verfahren eröffnete, stellten die Anwälte im Namen von Egon Krenz (58) und Günter Schabowski (66) schriftlich die Anträge, Richter Bräutigam und seine Strafkammer wegen „der Besorgnis der Befangenheit“ abzulehnen.

Ein fairer Prozeß sei keineswegs gesichert, argumentieren sie und stützen sich dabei vor allem auf die Tatsache, daß Bräutigams Kammer die von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Anklageschrift geändert und verschärft hat. Die Anklagebehörde unter Leitung von Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen hatte den früheren Politbüromitgliedern zunächst nur eine Mittäterschaft an Mauerschüssen vorgeworfen. Ende August, als die Anklage formal zugelassen wurde, hatte Bräutigams Kammer dann aufgesattelt: Krenz und Kollegen hätten durch „aktive Steuerungshandlungen zu Grenzfragen die Tötungen an der innerdeutschen Grenze mitveranlaßt“.

Den Angeklagten werde vorgeworfen, schreibt der Krenz-Verteidiger Robert Unger, „als Mitglieder des Politbüros einem Organ angehört zu haben, das die entscheidende Macht in der ehemaligen DDR ausgeübt haben soll. Die Angeklagten sollen deshalb für die Tötungen an der Grenze verantwortlich sein.“ Ein Prozeß, so Unger, habe nun zu prüfen, ob dieser Sachverhalt den Tatsachen enspreche. Statt dessen würde die 27. Strafkammer dies aber einfach unterstellen. Ähnliches gelte auch für die Behauptung, die Angeklagten hätten „die billigende Inkaufnahme der Mauertoten nicht bestritten“. Es sei kein Wunder, wenn Egon Krenz nach Zustellung des Gerichtsschreiben geglaubt habe, „daß er soeben nicht etwa den Eröffnungsbeschluß, sondern bereits das Urteil erhalten habe“.

Gegen die behauptete „billigende Inkaufnahme der Mauertoten“ führen die Anwälte die Aussagen der Beschuldigten in ihren früheren Vernehmungen an. Erich Mückenberger (85), früherer Vorsitzender der Parteikontrollkommission wird dazu mit dem Halbsatz zitiert: „Wenngleich ich über den Mauerbau alles andere als erfreut war.“ Der SED-Chefideologe Kurt Hager (83) hat demnach den Staatsanwälten gesagt, „daß wir keine Freude an den Opfern an der Grenze hatten“. Zu Honecker- Intimus Horst Dohlus (70) heißt es: „Ich habe jedes Vorkommnis an der Staatsgrenze bedauert, insbesondere wenn ein Flüchtender zu Schaden kam.“ Egon Krenz schließlich bedauere, „daß es an der Trennlinie zweier Weltsysteme Tote und Verletzte gab“.

Bis zum nächsten Prozeßtag am Montag muß die 35. Kammer des Landgerichtes über den Befangenheitsantrag entscheiden.

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