Schweifträger unter sich

■ Ausgezeichnet: „33 Augenblicke des Glücks“ von Ingo Schulze/ Morgen Lesung

Die Preisvergabe bei literarischen Wettbewerben ist immer höchst aufschlußreich. Das ausgezeichnete Werk sagt doch mindestens ebensoviel über die Geisteshaltung der Jury, wie über die Qualität des Autors aus. Das Klagenfurter Komitee des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs hatte in den vergangenen Jahren des öfteren erwogen, den renommierten Literaturpreis gar nicht zu vergeben: Die eingereichten Schreibarbeiten waren allesamt so schlecht, daß die Juroren nicht guten Gewissens den Preis hätten vergeben können.

In diesem Jahr haben sie den Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs dem deutschen Autor Ingo Schulze verliehen. Zuvor hatte Schulze den Alfred-Döblin-Förderpreis erhalten, in Kürze lobt die ZDF-Redaktion „aspekte“ den jungen Autor mit ihrem Kulturpreis.

Ingeborg Bachmann würde sich in ihrem römischen Grabe drehen, würde sie Schulzes Debut lesen. Die österreichische Schriftstellerin hatte am eigenen Leib erfahren, was es heißt, als Frau von Männern ausgebeutet zu werden. Max Frisch schrieb ihr Leben ab, sie rächte sich mit dem „Fall Franza“. Auf tausenden Manuskriptseiten hinterließ sie nach ihrem mysteriösen Tod 1973 das „Todesarten-Projekt“. Todesarten, die Frauen sterben, da Männer sie zuvor verraten, verstümmelt, seelisch getötet haben.

Dem aus Dresden stammenden Ingo Schulze (Jahrgang 1962) sind solche Überlegungen fremd. In seinen „33 Augenblicken des Glücks“ reihen sich die Männerphantasien eines Heranwachsenden zu „abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter“. Schulzes alter ego Hofmann drückt inmitten eines unmotivierten Gefechtes mit der russischen Mafia in Sankt Petersburg „Mädchen Pistolen auf die rechte Brustwarze“. „Irgendein Idiot schoß auf das Mädchen“, wo doch jedermann weiß, daß wahre Krieger nicht auf Frauen schießen.

Ingo Schulze verbrachte 1993 sechs Monaten in St. Petersburg. In der Zeit schrieb er Erlebtes mit „überbordender dichterischer Vorstellungskraft“ (Klappentext) zusammen. In vielen Fragmenten der „33 Augenblicke“ wird Schulzes Erzähltalent durchaus deutlich. Er beobachtet die Gewohnheiten der Russen genau, beschreibt Gerüche und Geräusche auf einem Gemüsemarkt sehr eindringlich. Aber immer, wenn man sich auf russisches Alltagsleben freut, gleitet die Geschichte ohne erkennbaren Stil ins unmotiviert Groteske ab.

Wenn Frauen respektive Mädchen in Schulzes Geschichtsfragmenten nicht tot hernieder sinken, sinken sie doch an den Hosenbeinen des Helden runter, um ihm die „Füße mit Küssen zu bedecken“. Die jede Leserin brennend interessierende Frage, warum sie das tun, klärt Schulze bedauerlicherweise nie. Genau so unklar bleibt, wieso die flachen männlichen Charaktere „mit ihren Ruten und Schwänzen“ wedeln, gar ein über den rechten Oberschenkel gelegter Schwanz den Schweifträger zum Satyr werden läßt.

Ulrike Fokken

Ingo Schulze ließt morgen abend in der Literaturhandlung Orlando, Contrescarpe aus seinem Buch.