: Auf der Flucht vor der Flucht
Amer N'Gani sucht nach Toten. Wer waren sie, deren Leichenbilder er bei sich trägt, woher kamen sie? Allen gemein: Sie waren Immigranten in Italien, wo die Hatz auf Ausländer immer heftiger wird ■ Von Werner Raith
Die Mission „ist eigentlich schon Routine“, sagt Amer N'Gani; aber sie „regt einen immer wieder auf“. Amer ist unterwegs zwischen Neapel und Rom durch die verschiedenen legalen und illegalen Camps von „Extracomunitari“, Immigranten von außerhalb der Europäischen Union. In der Hand hat er, auch während der Fahrt, einige Fotos von schwarzen Köpfen und Körpern, weiblicher und männlicher Art, manche nur schwer als menschliche Relikte zu erkennen – Tote, die die Polizei irgendwo gefunden hat, manche mit schweren Verletzungen und also möglicherweise durch Mord umgekommen, andere aus dem Wasser gefischt, zum Torso zerfressen, aber ohne erkennbare Gewalteinwirkung.
Es gilt, diese Menschen zu identifizieren, nachzufragen, ob jemand sie kennt, vermißt, wo sie herkommen, wo ihre Verwandten wohnen. Und manchmal möchte die Polizei auch wissen, ob diese Menschen etwa Mitglieder von Banden waren und deshalb bei einem „Ausgleich der Konten“ zwischen rivalisierenden Gruppen getötet wurden – was Vorkehrungen gegen weitere Gewalttätigkeiten auslösen müßte.
Amer, der aus Schwarzafrika kommt, ist kein Polizeispitzel. Er hat die Bilder nicht einmal von der Polizei, sondern von einem Freund, der aber wohl mit den Ordnungsämtern zusammenarbeitet. Amer genießt das Vertrauen der Menschen, weil er selbst zu den „Clandestini“ gehört, zu jenen Illegalen also, die weder bei den Behörden gemeldet sind noch anderweitige Papiere mit sich führen – das erschwert der Polizei sowohl die Abschiebung wie das Wiederfinden, wenn man den Carabinieri oder den Poliziotti dann doch wieder entkommt.
Wer allerdings in Schwierigkeiten kommt, hat, so Amer, „absolut keinerlei Halt im System, weder ärztliche Behandlung noch Schutz, er kann sich nirgendwo hinwenden, wenn ihn sein Boß bescheißt, und er kann im Grunde nicht einmal abhauen – dazu fehlt ihm nämlich fast immer das Geld“. Er selbst allerdings läßt Polizisten, wenn sie ihn aufgreifen, die Nummer jenes Freundes anwählen und ist meist schnell wieder frei.
Auf der Fahrt von Fossanova, wo wir uns am Bahnhof getroffen haben und nun mit meinem Wagen weitertuckern, zieht er die neueste Nummer des liberalen Nachrichtenmagazins L'Espresso heraus: auf dem Titelbild „Ecce bomba“, und um die abgebildeten Immigrantengruppen herum eine bereits an der Lunte brennende Kugelbombe. „So geht das seit Wochen“, sagt er und zieht drei andere Zeitungen hervor, Panorama und Epoca, dazu l'Indipendente, eine Tageszeitung aus Mailand, die seit langem gegen Ausländer zu Felde zieht.
Beim Herausziehen der Journale klappert es, eine Pistole fällt heraus und zwischen meine Füße, so daß ich fast das Steuer verreiße. „Sorry“, sagt Amer und klaubt seine Waffe wieder auf, „aber ohne geht es schon lange nicht mehr.“ Er lädt durch, zieht dann das Magazin wieder heraus, öffnet den Schacht und läßt die eingeschobene Patrone in seine Hand kullern, setzt das Ding wieder gesichert zusammen. „Vierhunderttausend Lire“, sagt er, „habe ich drei Monate dafür gearbeitet. Aber ohne geht's nicht mehr. Hat mir schon viele Male das Leben gerettet. Viele Leute, die uns beschäftigen, wollen am Ende nicht zahlen, und zur Polizei können wir nicht gehen. Was soll man machen.“
Bewaffnete Immigranten – bestätigen sie nicht alle Vorurteile? „Sicher“, sagt Amer ganz ohne Zögern, „aber wie sonst sollen wir uns schützen? Nicht nur diese armen Kerle da“, er zeigt auf die Toten- Fotos, „sondern Dutzende von unseren Freunden kommen in Italien um, viele werden geschlagen, können aber keine Anzeige machen ...“
Wäre nicht alles einfacher, wenn sie doch von einer der vielen Amnestien Gebrauch gemacht und sich gemeldet hätten – einmal registriert und mit einem Ausländerausweis ausgestattet, stehen ihnen doch die Dienstleistungen des Landes offen, auch der Schutz – „und das foglio di via“, die Ausweisungspapiere, sagt er bitter: denn die werden in Italien oft schneller ausgestellt als die Ausweise. „Wenn es eine Schlägerei gibt und die Polizei greift einen von uns auch nur in einer Umgebung von dreihundert Metern auf, dann ab zur Wache, schnell ein Protokoll, das die meisten von uns gar nicht verstehen, und zwei Tage danach geht's schon in die Abschiebehaft.“
In der Nähe von Latina trifft Amer auf eine weitere Gruppe, denen er die Fotos zeigt: Immigranten aus Villa Literna bei Neapel hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, daß von Latina letztens mehrere Dutzend Schwarze heruntergewandert sind. Tatsächlich scheint er fündig zu werden. Eine Frau vermutet, bei dem Torso könne es sich um einen Mann handeln, der vor zwei, drei Wochen hier mit einer grünen Tasche vorbeigekommen ist und am Stadtrand Kleider feilgeboten hat – er hatte eine Narbe am Hals, die wie diese hier aussieht.
Amer forscht weiter: hat ihn noch jemand gesehen? Ein dicker, gemütlicher Schwarzer schiebt sich nach vorne. „Ich“, sagt er, „ich denke, er war mein Vetter.“ Er sagt es mit einem unglaublichen Gleichmut. „Ist er tot?“ Natürlich ist er tot. Er schaut das Foto an. „Ja. Tot.“ sagt er und dreht sich um, ißt an seiner mit Tomaten gefüllten großen Semmel weiter, als sei nichts passiert. Er hebt die Schultern. Den Namen? „Weiß ich nicht genau. Wir haben uns vor einem Monat gesehen und beim Erzählen erkannt, daß wir vielleicht Vettern sind. Müßte Kama oder Koma heißen. Oder so.“
Amer notiert: „Kama oder Koma, möglicherweise Nigerianer, möglicherweise 45 Jahre alt, möglicherweise seit 1993 in Italien, möglicherweise verfolgt von einem Zulieferer, den er nicht bezahlen konnte, möglicherweise verheiratet mit einer Frau, die in der Nähe von Rimini lebt, möglicherweise als Prostituierte.“ – „Jedenfalls hat er von einer Frau erzählt, die an manchen Abenden eine halbe Million verdient“, erinnert sich der Dicke. Die Frau, die den Torso zuerst wiedererkannt hat, weint laut los. „Scheißjob“, sagt Amer.
Wir ziehen weiter. Hinter Aprilia lassen wir zwei trampende Tunesier einsteigen. Wo sie hinwollen? „Weiter. Da hin.“ Sie zeigen nach vorne, unbestimmt. Jedenfalls weg von hier. Der Verdacht, daß sie gesucht werden, ist nicht so ganz von der Hand zu weisen. Amer zeigt seine Fotos, Fehlanzeige. Aber die beiden haben nun etwas Vertrauen zu Amer. „Eigentlich sind wir irgendwie auf der Flucht vor der Flucht“, sagt der eine plötzlich in etwas holperndem Italienisch, was zunächst an eine verdrehte Formulierung denken läßt. „Nein, doch“, sagt er, als er meinen Blick im Rückspiegel bemerkt, „wirklich, Flucht vor der Flucht: Irgendwie wollen wir aufhören zu fliehen, immer nur fliehen. Irgendwie müssen wir uns stellen, auch unserer Illegalität, und sie selber zur Legalität machen, nicht die Behörden, wir, wir müssen das tun.“
Zwei Jahre haben die beiden legal in Italien gearbeitet, zuerst auf den Tomatenfeldern bei Caserta, dann in einer Keksfabrik bei Latina, schließlich haben sie bei einem Tandhändler als Unterverkäufer angeheuert, „immer alle Papiere in Ordnung“. Doch „das hat uns weder Prügel von rassistischen Kaufleuten noch Demütigungen bei der Polizei erspart“, sagt der Tunesier. „Einer hat mir sogar eine Kelle auf den Kopf gehauen und lachend geschrien: ,So, dann seid ihr das, die diesen Riesengangster von Craxi beherbergen, statt ihn ins Zuchthaus zu stecken.‘“ Daß der mittlerweile steckbrieflich gesuchte ehemalige Ministerpräsident Italiens in Hammamet bei Tunis sitzt und seine per Schmiergeld eingesackten Dollarmillionen fröhlich genießen kann, nimmt der kleine Mann Italiens dem kleinen Mann aus Tunis persönlich übel.
Plötzlich geht alles sehr schnell. „Anhalten“, sagt Amer, „raus“. Am Straßenrand, schemenhaft in der Dämmerung, steht ein Mann und macht ein Zeichen wie der Schiedsrichter beim indirekten Freistoß: Die drei sind so schnell verschwunden, daß ich nicht mal auf Wiedersehen sagen konnte. 500 Meter weiter ist die Polizeisperre, eine Kontrolle der Finanzwache über die gültige Zulassung der Autos und die mitgeführten Waren. Es dauert gute zwanzig Minuten, bis ich durch bin – 200 Meter weiter wartet Amer mit einem der beiden Tunesier, als sei nichts gewesen. „Alles Routine“, sagt er, „hier machen sie oft Straßenblockaden und manchmal auch Razzien.“ Allerdings hat er sich in den dornigen Büschen zwei häßliche Risse zugezogen, einen an der Wange, einen anderen am linken Arm. „Kein guter Tag“, sagt er. Besuche in zwei weiteren Camps im römischen Stadtteil Casilino erbringen keine neuen Erkenntnisse.
Und dann erwischt es ihn auch noch vollends: Kurz nachdem wir am Tiberufer im Zentrum Roms aus dem Auto steigen, stehen zwei Carabinieri vor uns und wollen die Ausweise sehen. „Schlägerei gehabt?“ fragen sie mit Blick auf Amers blutende Wange, aber sie erwarten wohl keine Antwort. Sie durchsuchen die Tasche – merkwürdigerweise finden sie alles, außer der Pistole. Amer hebt die Arme, macht mir eine beruhigende Geste. Mein Verdacht, er habe das Schießeisen in meinem Auto versteckt, erweist sich als falsch – während ich die Papiere heraushole, um mich auszuweisen, durchsuche ich vorsichtig den Wagen, nichts. Amer hat mich belustigt beobachtet. „Niente, nichts“, sagt er, als er ins Auto der Carabinieri einsteigt. „Ist nur kein guter Tag heute.“
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