Kleines Licht im großen Schlepper-Geschäft

■ Der Grenzschutz meldet "kontinuierliche Zunahme illegaler Einreisen". Bei den Gerichten stauen sich die Prozesse dazu

Bautzen (taz) – Für vier Jahre muß Miroslav P. hinter Gitter. Die Strafkammer am Landgericht Bautzen hofft auf „generalpräventive Wirkung“. Sie verurteilt den 34jährigen Tschechen wegen des Einschleusens von Ausländern, Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, fahrlässiger Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.

Etwa 120 Ermittlungsverfahren zum betreffenden Paragraphen 92 des Ausländergesetzes laufen derzeit bei der Staatsanwaltschaft in der ostsächsischen Kreisstadt. Die meisten „Schleuser-Prozesse“ werden am Amtsgericht verhandelt; in diesem Jahr waren es bereits über 70. Dieses jüngste aber mußte weitere, strafverschärfende Umstände berücksichtigen und war deshalb zum Landgericht verwiesen worden.

Miroslav P. hatte den „Job“ im nordböhmischen Liberec übernommen; dafür sollte er 250 Mark erhalten. Das ist etwas mehr als die Hälfte des durchschnittlichen tschechischen Monatseinkommens. Nachdem der Schleuser legal die deutsche Grenze passiert hatte, „übernahm“ er bei Taubenheim/Spree fünf Kosovo-Albaner, die er nach Dresden bringen sollte. Eine Tour, die der Mann nicht regelmäßig, aber auch nicht zum ersten Mal absolvierte. Doch diesmal war er beobachtet worden, auf tschechischer und auf deutscher Seite. Als ein Bundesgrenzschützer das vollbesetzte Auto anhalten wollte, geriet der Fluchthelfer in Panik. Mit steigender Geschwindigkeit fuhr er auf den Beamten zu, der sich mit einem Sprung rettete. Ein Warnschuß auf die Reifen stoppte das Fahrzeug, die Insassen wurden festgenommen.

Den Anklagevorwurf des „versuchten Mordes“ mußte der Staatsanwalt während der zweitägigen Verhandlung fallenlassen. Er habe nicht töten, sondern fliehen wollen, beteuerte Miroslav P., der sich bei dem leichtverletzten Beamten mehrfach entschuldigte. Sein Mandant, erklärte der Anwalt, sei keinesfalls „einer dieser gewerbsmäßigen Schleuser, die ohne Rücksicht auf Verluste Ausländer über die Grenze schaffen“. Auch die Kammer sieht P. „nur als kleines Licht im großen Geschäft.“

167 Schleuser sind im ersten Halbjahr an der 454 Kilometer langen sächsisch-tschechischen Grenze festgenommen worden, davon waren 96 Tschechen, 16 Deutsche, 14 Vietnamesen. Das Grenzschutzamt Pirna registrierte von Januar bis September dieses Jahres 5.723 illegale Einreisen. Im Januar hatte es 293 gezählt, im September schon 961. Erstmals seit Juli 1993, als mit der Änderung des Artikels 16 die faktische Abschaffung des Asylrechts in Kraft trat, meldet der Bundesgrenzschutz wieder einen „kontinuierlichen Anstieg illegaler Einreisen“.

Im Grenzschutzpräsidium Ost, zuständig für die gesamte sächsisch-tschechische und deutsch- polnische Grenze, wird diese Trendumkehr bestätigt. Hält die Tendenz an, werden bis Jahresende über 22.000 Menschen an der grünen Ostgrenze aufgegriffen worden sein. 21.169 waren es im Vorjahr. 1994 stellten im Durchschnitt monatlich 89 Flüchtlinge, nachdem sie als „Illegale“ aufgegriffen wurden, einen Asylantrag; 1993 waren es 141, in diesem Jahr sind es schon monatlich 109.

41 Prozent der zwischen Januar und September aufgegriffenen „Illegalen“ kamen aus Rumänien, 4,1 Prozent aus dem in der BGS-Statistik noch existenten Jugoslawien; aus Armenien 4,9 Prozent; 7,3 Prozent aus Bulgarien. Andere Länder: unter 4 Prozent.

Eine wichtige Ursache für die steigenden „Aufgriffzahlen“ ist die personelle und technische Aufrüstung des Bundesgrenzschutzes. Immer mehr Beamte mit modernster Überwachungstechnik, „grenzpolizeiliche Unterstützungskräfte“ und freiwillige Informanten in grenznahen Ortschaften verstopfen die „Schlupflöcher“ an der grünen Grenze. Der entscheidende Hintergrund dieser kontinuierlichen Zunahme von „Aufgriffen“ liegt aber weder im perfektionierten Grenzregime noch in der organisierten Kriminalität. Für Steffen Claußner, Chef des Bundesgrenzschutzamtes Pirna, stehen die Ursachen außer Frage: „Es kommen immer mehr Menschen zu uns aus Krisenregionen. Da brauchen wir doch nur in die Zeitung zu schauen und mit den Fluchtwegen zu vergleichen.“ Detlef Krell