Auf dem Bundesparteitag der SPD in Mannheim begeisterte Rudolf Scharping die GenossInnen nur mäßig für den Neuanfang. Anschließend durften die Delegierten sechs Stunden lang ihrer Wut Luft machen Aus Mannheim Karin Nink und Hans Monath

Hallo, die Nation braucht uns noch!

Zur letzten Zigarette vor dem schwersten Auftritt seiner Laufbahn zog sich Rudolf Scharping in das kleine Stenographenbüro neben der Bühne zurück. Lange hatte der gebeutelte Parteichef am Dienstag vormittag am Vorstandstisch gemeinsam mit den interviewfreudigen Ministerpräsidenten und den weniger prominenten Vertretern der Parteispitze die bunten Filme und Gastauftritte zu den Friedensprozessen in Israel, Nordirland und Südafrika mit angesehen, die da auf der großen, leeren Bühne die weltweite Wertschätzung sozialdemokratischer Ideen demonstrieren sollten. Dieser einen Rede in Mannheim war so viel Bedeutung für die Zukunft Scharpings und seiner Partei zugeschrieben worden, daß auch enge politische Mitstreiter des Fraktionschefs in den Minuten vor dessen Auftritt vor Nervosität feuchte Hände bekamen.

Scharping hatte am Vorstandstisch, wo wenige Plätze entfernt auch Gerhard Schröder, Heide Simonis und Oskar Lafontaine saßen, schon wieder Platz genommen, als die südafrikanische Band auf der Bühne die letzten Takte auf ihren Bongos trommelte. Dann war die Bühne leer, Scharping stand mit versteinertem Gesichtsausdruck auf, knöpfte das Jackett zu und schritt auf die Mauer aus Fernsehkameras zu, die zwischen dem Vorstandstisch und der Bühne stand. „Rudolf Scharping hat das Wort“, sagte der baden- württembergische Landesvorsitzende Ulrich Maurer. Als die rund 500 Delegierten Applaus spendeten, klatschten auch Schröder und Lafontaine kurz Beifall.

Friedenspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Sicherung des Sozialstaates, Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung sowie Fragen der Ökologie waren die inhaltlichen Themen von Scharpings Rede. Hier blieb er – außer bei der Frage der Bosnien-Sicherung – bei allgemeinen Formeln, denen konkrete Handlungsvorschläge fehlten. Und er widersprach seiner eigenen Feststellung, daß „Formelkompromisse nicht weiterhelfen“. Daß sozialer Friede nur mit einer starken wirtschaftlichen Kraft zu sichern sei, war eine seiner zentralen Aussagen. Es gelte, die Frage zu beantworten: „Wie können wir die Grundlagen des sozialen Friedens erhalten unter dem Druck des globalen Wettbewerbs?“ Scharping sprach sich auch für eine ökologische Modernisierung und eine ökologische Steuerreform aus.

Der Bundesregierung warf er Versagen auf der ganzen Linie vor. Sie habe die Steuer- und Abgabenlast der Bürger auf „bisher nicht für möglich gehaltene Rekordhöhe“ getrieben. „Die Steuerpartei sitzt im politischen Spektrum rechts“, wandte er sich an die Adresse der Kohl-Regierung.

Seine Haltung zu einer deutschen Beteiligung bei einer Friedenssicherung in Bosnien war eindeutig: „Wenn der Frieden militärisch gesicherter Garantien bedarf, soll Deutschland sich beteiligen. Nicht im Sinne vom Kampf, sondern mit dem Wissen darüber, daß Frieden manchmal so garantiert werden muß.“ Der Beifall der Delegierten war mäßig. Große Zustimmung erntete er dagegen vor allem mit dem Eingeständnis der Fehler in der Parteiführung. „Es ist viel Porzellan zerschlagen worden. Die Folgen tragen Mitglieder und Ortsvereine, die sich zu Hause engagieren“, gestand Scharping und erntete damit nicht nur ein strammes „Jawohl“, sondern auch viel Beifall. Dieser steigerte sich, als er jeden an der Parteispitze aufforderte, „der Basis den Rücken zu stärken, statt ihr ständig Knüppel in die Beine zu hauen“. Die Selbsterkenntnis: „Die Sozialdemokraten werden gebraucht, aber in den vergangenen Monaten waren sie nicht immer zu gebrauchen.“

Die Sympathie der Basis gewann er, als er sich zu eigenen Fehlern bekannte: „Zuviel gemacht, zuwenig bewirkt, zu sehr auf Konsens gesetzt und deswegen manchmal Dinge ohne persönliche Überzeugung gemacht.“ Bravorufe waren ihm da sicher, als er ruhig feststellte: „Sollte sonst jemand zu den Schwierigkeiten der vergangenen Monate beigetragen haben, wird er oder sie sich äußern.“ Damit brachte er, ohne einen Namen zu nennen, Gerhard Schröder und Heide Simonis in Bringschuld; letztere hatte Scharping jüngst noch mit einem hin- und herrennenden „Hund in einer Kegelbahn“ verglichen.

An ihnen lag es nun, sich gegenüber den Delegierten zu erklären. Doch es vergingen gestern nachmittag mehr als eineinhalb Stunden, bevor Schröder das Wort ergriff. „Ich akzeptiere den Vorwurf, der Partei geschadet zu haben deshalb nicht, weil wir in den letzten zehn Jahren in Niedersachsen das Gegenteil haben Praxis werden lassen. Wir haben mit einer rot- grünen Koalition die Regierung der Union beendet. Und wir haben daraus im Gegensatz zu anderen eine absolute Mehrheit für die SPD gemacht.“ Fazit: Über Fehler, die er auch gemacht habe, könne man reden, aber nicht über die Art und Weise, wie er politisch arbeite. „Da tut's mir leid.“ Er machte deutlich, daß er seine Wirtschaftspolitik und seine Haltung zur europäischen Währungsunion nicht ändern werde. Letzteres ist für ihn nach wie vor eine „nationale Frage“. Schröder erntete mäßige Zustimmung.

Die ganze Aufmerksamkeit der Delegierten in dem überfüllten Saal galt dagegen Scharping, als er gegen Ende seiner Rede offen die Belastung erkannte, die der Streit um seine Person für ihn und seine Familie bedeutete. „Warum macht man so etwas?“ habe er sich von Freunden und seinen Kindern fragen lassen. Ganz langsam, aber sehr entschieden sprach der beschädigte Parteichef, als er die öffentlichen KritikerInnen seiner Leistung als Saboteure an der gemeinsamen Sache identifizierte: „Angriffe auf den Vorsitzenden sind auch Angriffe auf die Partei.“

Das kam an bei der Basis, die sich bei jedem öffentlichen Auftritt in den vergangenen Monaten die hämischsten Bemerkungen hatte anhören müssen. Scharping jedenfalls versprach der Basis: „Wir haben es in der Hand, denen in Schleswig-Holstein, in Baden- Württemberg, Rheinland-Pfalz und in Bayern nicht mehr das zuzumuten, was wir in Berlin versaubeutelt haben.“ Auf diese Zusage hoffen die Delegierten: „Wir haben in Bayern im März Kommunalwahlen und können nur hoffen, daß der Parteitag den Streitereien in der Führungsspitze ein Ende setzen kan“, sagte Hans Joachim Werner aus Ingolstadt. Er nennt sich selbst „keinen Freund von Scharping“, aber „Scharping ist der Parteivorsitzende und hat Anspruch auf Solidarität“. Werner begrüßte es, daß Scharping aus sich herausgegangen sei und seine Position „deutlich gemacht hat“.

Der stellvertretende bayerische SPD-Vorsitzende Albert Schmid, ein ausgewiesener Freund des Scharping-Rivalen Gerhard Schröder, bemängelte, die Rede sei unvollständig gewesen. Es gehe schließlich nicht nur um persönliche Probleme, sondern um „tieferliegende Inhalte“. Die seien vom Vorsitzenden nicht angesprochen worden.

Ein anderer Delegierter fand die afrikanischen Tänzerinnen vor dem Auftritt Scharpings interessanter als die Rede des Chefs. Dagegen fand Scharpings Frau Jutta gerade die emotionalen Passagen besonders überzeugend. „Die Aufführung der Indianer bei den Karl-May-Festspielen in Segeberg war wesentlich besser als das Schauspiel, das sich unsere Oberindianer in diesem Jahr geleistet haben“, so der schleswig-holsteinische SPD-Chef Willi Piecyk.