Rückblick im Zeichen von Aids

■ Christoph Geiser über Wut und Erinnerung in seinem Roman

Ein erwachsener Ich-Erzähler sitzt dem Foto des Vierzehnjährigen gegenüber, der er einmal war. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen – also auch im Zeichen von Aids – befragt er das stumme Foto nach der Entdeckung des Körpers und der Sexualität in den 60er Jahren, nach den verpaßten Möglichkeiten einer sexuellen Emanzipation. Christoph Geiser sprach mit der taz über seinen Roman Kahn, Knaben, schnelle Fahrt.

taz: Warum erzählen sie nicht einfach die Geschichte der Pubertät des Jungen?

Christoph Geiser: Ich konnte das nicht in einer erzählerischen Form machen, weil an Erzählbarem gar nichts da war. Es waren nur Möglichkeiten da. Möglichkeiten, die der 14jährige gar nicht erkennen, höchstens ahnen konnte. Darum brauchte ich diese rhetorische Form der Anrede, darum ist der Junge auch stumm. Er hat keine Geschichte, keine Sprache, keine sexuelle Realität.

Das Foto des Knaben löst Erinnerungen aus, doch das Ich scheint gegen diese Erinnerungen anzureden. Warum?

Weil ich frage, was diesem Ich eigentlich entgangen ist. Das sind die Wünsche des Erwachsenen an eine andere Biographie, an eine andere Biographie des Körpers, der Sexualität. Gleichzeitig ist es ein Ausprobieren aller möglichen Muster. Aber am Ende entkommt man dem Gewesenen natürlich nicht.

Angst ist das zentrale Thema des Romans.

Als ich dieses Foto zum ersten Mal sah, habe ich begriffen, wie fremdbestimmt dieses Kind ist, in welchen Terror und Zwängen dieses Kind steht. Der Körper wird durch Erziehung in Besitz genommen und vergewaltigt. Die sich anbahnende Sexualität sollte ja eine Befreiung daraus sein. Aber das muß mißlingen, weil sich das erwachsene Ich selber wieder zum Anwalt der Erziehung macht. Es gibt irgendwo mal den Satz: Ich will dir ja nur eine Geschichte anhängen, ich will dich nur in eine Geschichte hineinstauchen, als wäre sie eine Schulbank.

Am Ende kommt Aids ins Spiel, die Angst vor dem Tod. Ist Ihr Buch ein Schrei der Verzweiflung?

Nein, sondern eher der Wut. Wut in dem Sinne, daß ich dem Knaben sage: „Befrei dich, befrei dich, befrei dich!“ Und kaum tut er's, kriegt er den Hammer auf den Kopf. Der Grundeinfall war, daß ich, hätte ich so befreit gelebt, heute tot wäre. Das erzeugt natürlich Wut. Und dies Buch ist der Versuch, die Wut durch Ironie und durch ein großes, wahnsinniges Lachen aufzuheben.

Fragen: Detlef Grumbach

C. Geiser liest heute, 20 Uhr, Magnus-Hirschfeld-Centrum

Kahn, Knaben, schnelle Fahrt; Nagel & Kimche, 239 S., 39,80 Mark