Heldin: Frau M., Essensausgabe Von Claudia Kohlhase

Frau M. sagt, sie hat gelesen, man soll das Essen freundlich ausgeben. Wo Frau M. das gelesen hat, weiß sie nicht mehr genau, aber es stimmt, das fühlt sie ja. Außerdem ist Freundlichkeit für Frau M. kein Fremdwort und keine Schwierigkeit. Und für das Essen kann sie ja nichts. Frau M. sagt, nicht, daß sie sich anbiedern wolle, das sei schon ihrer Wesensart fremd, aber es sei doch zu beobachten, daß sie deutlich häufiger angelacht wird als ihre Kolleginnen, die still und stumm das Essen austeilen und denen Frau M. nicht ganz geheuer ist. Für Frau M. ist aber schon Betriebsklima, wenn die andern nur an Möhren oder Erbsen denken. Betriebsklima in dem Sinne, daß man ein Betriebsklima herstellen kann, und das tut Frau M., so gut es in ihrer Macht steht. Und da steht einiges.

Frau M. ist selbstbewußt genug zu wissen, daß sie als Garant für dieses Klima nicht nur in Frage kommt, sondern ein bißchen dafür prädestiniert ist. Frau M. sagt, es wäre ihr einfach unmöglich, bloß in der Gegend herumzustehen oder da herumzulöffeln, quasi ohne echte Ansicht der Person oder deren Gesicht. Ich zum Beispiel bin ihr ganzer Kummer und ihr ganzer Stolz, weil ich nach Ansicht von Frau M. zu dünn bin. Der Stolz rührt daher, daß sie an mir den Grad ihrer Freundlichkeit derart hochschrauben kann, daß sie unmittelbare Auswirkung auf die Ausgabemenge von Erbsen, Möhren oder Linsen hat. Frau M.s Strahlen ist dann von einem Leuchten, das sich sofort über das Gemüse sowie über mich legt. Man muß sich diesem Glanz unbedingt beugen, und anschließend sieht man mich mit einem sehr sehr vollen Teller. Frau M. dahinter sieht dann sehr sehr glücklich aus. Es ist hübsch, schon zum Verdienst eines anderen beizutragen, bloß weil man sieben Erbsen mehr ißt – die man im Grunde auch gar nicht essen muß, sondern nur mit sich herumtragen. Denn wer will schon auf dem Geschirrwagen späterhin meinen Teller identifizieren? Eigentlich müßte sich Frau M. langsam wundern, daß ich immer wieder dünn bin, wenn ich vor sie hintrete. Aber für Frau M. ist die Essensausgabe ein Prozeß mit Glück am Ende, allerdings ist auch in Frau M.s Augen ein derartiger Prozeß nicht wirklich abschließbar.

Es gibt heute Pudding, sagt Frau M., als wenn jemand geheiratet hätte. Und dann nimmt jeder Pudding und ich auch, um Frau M.s persönliches Betriebsklima nicht zu gefährden, das vielleicht in ein allgemeines mündet, wenn alle nur genügend Pudding nehmen. Außer Frau M. weiß aber sowieso niemand, was ein Betriebsklima ist. Und Frau M. äußert sich ja nicht wirklich, sondern lacht und scherzt nur über dem Gemüse, aber auch über Braten, so daß man Braten nimmt, obwohl man gar keinen Braten möchte. Ich mag aber keinen Braten, sage ich manchmal scherzhaft zu Frau M., aber Frau M. hört gar nicht hin, weil ein Betriebsklima eben ein Betriebsklima ist, zur Not kann ich dann manchmal auch Nudeln nehmen, die machen sowieso dicker.

Nachmittags ist Frau M. an der Kaffeeausgabe, wo auch die kleinen Schokoladen liegen. Sie hatten heute noch keine Schokolade, sagt Frau M., und auch der Kuchen ist heute saftig. Frau M., sage ich dann, Sie sind ja umwerfend. Ja, sagt Frau M., obwohl ich auch vorwurfsvoll sein könnte.