Position X

Findefilm eines Rätselwesens: „Nico Icon“, Susanne Ofteringers Annäherung an die Sängerin und Selbsterfinderin Nico  ■ Von Thomas Groß

Wo so wenig wirklich klar ist, blühen neben den Superlativen („schönste Frau, die ich je gesehen habe“) immer auch die Metaphern: „Mondgöttin“, „Ice Maiden“, „Femme fatale“, „Sirene der Sechziger“, „rastloses, getriebenes Wesen“, „Deutschlands einziger Popstar“, „IBM-Computer mit Garbo-Akzent“ usw. – alles Namen für Nico, die, soviel steht fest, am 16. 10. 1938 als Christa Päffgen in Köln zur Welt kam und vaterlos in Lübbenau bei Berlin aufwuchs. Als Kind habe sie die Todeszüge vorbeifahren sehen, mit Händen, die sich hilfesuchend aus den Waggons reckten, hat sie Donald Lyons, einem von Andy Warhols Factory- Boys, später in New York erzählt. Ihr Vater sei ein Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen, ist eine der Lesarten ihrer Herkunft, die sie in Interviews zu Protokoll gab. Aber das kann sie, Nico Icon, genausogut erfunden haben.

Christa Päffgen, die sich (nach dem Filmregisseur, Nachtclubinhaber und Ex-Geliebten Nico Papatakis) Nico nannte, muß den Leuten immer auch das erzählt haben, was sie ohnehin in ihr sehen wollten – oder bereit waren zu glauben. Vor allem im New York der Mittsechziger: das Umfeld von Warhol und Velvet Underground, Beginn einer neuen Zeitrechnung, wer kennt sich da schon so genau aus mit Köln, Berlin, Lübbenau? „I think she had some polish blood, too“, mutmaßt Lyons, der sie eigentlich ganz gut gekannt haben müßte; das Begleitheft zur kürzlich erschienenen ersten Velvet-Underground-Werkausgabe verbucht sie gar als „impeccable and unflappable beauty born in Budapest, Hungary“.

Biographische Basteleien? Eine Frau erfindet sich selbst? Es mochte gut angekommen sein in der Factory-Gesellschaft, von altem ungarischen Adel zu sein (so wie es Marianne Faithfull in London aufwertete, einen, den von Sacher-Masoch in der Ahnenreihe zu haben). Und ein Zufall ist es sicher nicht, daß Lou Reed einen der drei Songs, die Nico für Velvet Underground gesungen hat, mit den Zeilen beginnen läßt: „I'll be your mirror / Reflect what you are / In case you don't know“.

Keine leichte Ausgangslage für eine „filmische Annäherung“, wie Susanne Ofteringer ihr Projekt untertitelt hat. Zwei Jahre hat die Kölner Journalistin für „Nico Icon“ recherchiert, hat Archivmaterial durchgesehen, vor allem aber Interviews mit den Leuten geführt, die Nico gekannt haben – von der mittlerweile 83jährigen Schwester der Mutter über zahlreiche verflossene Liebhaber und Bekanntschaften bis hin zu den Zeugen der Spätphase, als Nico längst nicht mehr das gefragte Model und Glamourgirl war, sondern eine von Drogen ausgezehrte Endvierzigerin, die 1988 auf Ibiza tot vom Fahrrad fiel.

„Nico Icon“ ist eine Art Findefilm der „Frau dahinter“, Position X. Er hält sich nicht sklavisch an die Chronologie, folgt aber im wesentlichen den biographischen Stationen, so sie als Stimme und Material zum Sprechen zu bringen sind: Flackernde Konzertaufnahmen (Velvet-Schlagzeugerin Maureen Tucker hat einmal auf den erstaunlichen Umstand hingewiesen, daß Andy „Taping it all“ Warhol kein einziges Konzert der Band vollständig festgehalten hat), Erinnerungsspuren, viel männliches Orakeln über das Wesen, das ihnen über den Weg gelaufen ist („No one loved Nico, and Nico loved no one“), aber zugleich auch ein rascher Erfolg als Ikone der Stunde unter selbstgewähltem Logo. Heinz Oestergaard, der Lagerfeld der Fünfziger, ist die Brücke nach Paris, wo Nico schnell zum gefragten Covergesicht avanciert. 1965 entsteht, man weiß nicht recht wie, in London die Single „I'm not sayin‘“, Nico als dunkel schwingendes Sechziger-Girl, davor schon ein Kurzauftritt in Fellinis „La Dolce Vita“. Paris, London, Rom: Cinderella geht ihren Weg. Und Ofteringer erlaubt sich, ein wenig pathetisch zu sein, die berühmten Velvet-Zeilen zu unterlegen und den Ton aufzudrehen: Dengeldengeldengeldengel, Lou Reeds Gitarre, John Cales Viola und über allem diese German-accent-Stimme ... „what costumes shall the poor girl wear / To all tomorrow's parties?“

Warum Europas Parties Mitte der Sechziger nicht mehr die geeignete Bühne für Nico waren, ist „Nico Icon“ nur in Randbemerkungen abzulesen, aber immerhin. „Modelling was non-artistic“, verrät Paul Morrissey, Warhols ausführender Regisseur, der Kamera. Naomi Campbell, Cindy Crawford, Kate Moss waren als Musterfälle eines Universaleinsatzes von Körper und Gesicht (in Mode, Film, Popmusik, sogar als Buchautorinnen) noch nicht erfunden, auch nicht die arbeitsteilige Industrie, die dafür nötig ist. Der einzige Ort, der mit so etwas experimentierte, war in den Sechzigern Andy Warhols Factory, und prompt kreuzt Nico hier auf, als fremdartiges, mit Brecht- Diktion und hohen Wangenknochen gesegnetes Wesen.

Es muß der Wunsch nach „Autorschaft“ im Rahmen eines vielversprechenden Multimedia- Kunstprojekts gewesen sein, der Nico am Warhol-Kreis anzog, Kapital/Einsatz/Eintrittskarte waren ihr Gesicht und ihre glaubhaft verkörperte Vita als Kind postfaschistischen, mit geheimnisvollen Traumata belasteten Adels. Und tatsächlich geht ihre Rechnung auf: Die Chemie der Stunde bringt die vormalige Christa Päffgen mit einer ähnlich gepolten Band zusammen, mit der sie eine der tollsten Debutplatten aller Zeiten aufnimmt: „The Velvet Underground and Nico“, von Warhol in dieser Titelgebung durchgesetzt, die Platte mit der Banane, peel slowly and see. Allerdings bleibt Nico zugleich bloß eine Größe in einer viel komplexeren Gleichung. „Art- School-Band + Ges(ch)ichtsikone + Image-Gestaltung durch einen Impresario dahinter = Breakmodel“ – so etwas ähnliches mag Andy Warhol sich gedacht haben.

Es ist ein Unfall der Geschichte, daß der eigentliche Ruhm von Velvet Underground erst viel später einsetzte, als die Band – ohne Nico – längst andere Wege verfolgte und Warhol das Interesse an ihr verloren hatte. Nico nimmt noch „Chelsea Girl“ auf (die Platte, nicht den Film), ein Versuch, sich im Milieu zu halten, wird drogensüchtig und fällt dann allmählich aus dem New Yorker Kreis heraus.

Als ich sie traf, war sie schon nicht mehr die Schönheit von einst, sondern ein Junkie mittleren Alters“, berichtet James Young, ein vom Konservatorium weggefischter, eher beliebiger Musiker, mit dem Nico in den Dekadenzjahren auf Tour ging – Jahre, die man zwar auf Film gern sehen würde (man sieht nur Reden darüber), aber nicht so gerne selber miterlebt oder gar durchgemacht hätte.

Daß diese letzte Phase bei Ofteringer am besten dokumentiert ist, mag mit einer gewissen Lockerung des Copyrights auf die in Film und Rede konservierte Erinnerung zu tun haben (die „bleiernen“ Siebziger und die Achtziger, die für Nico verlängerte Siebziger waren, sind ein weit weniger professionell verwaltetes Gebiet als die ruhmreichen Sixties), aber auch mit dem Durchschlagen der ursprünglichen Faszination auf seiten der Forscherin. Zum ersten Mal schält sich aus dem gezeigten Material so etwas wie eine „These“ heraus: Nicos Weg in den Sub, so erzählt sich die Geschichte, war nicht nur Opfergang, sondern zugleich auch Befreiung aus männlicher Zuschreibung, ein Akt der Verneinung all dessen, was Rolle, Marktwert, Ikone bedeutete, der sich zerstörerisch selbst gegen ihr größtes Kapital richtete: ihre Schönheit.

Zeigt her eure Zähne ... sie sei stolz auf ihr zerstörtes Gebiß gewesen, erzählt einer. Und Lutz Ulbrich, damals Liebhaber (heute Nachttaxifahrer in Berlin), berichtet von endlosem Drogenstarrsinn in einer Pariser Mansardenwohnung, in der die Aschenbecher nie geleert wurden. Zuletzt habe sie sogar ihren eigenen, mit Alain Delon gezeugten Sohn angefixt – „das Letzte“, befindet Ulbrich, und das ist es ja auch, schon im Wortsinn, Rabenmutter, Medea-Motiv. Im Film aber auch verstehbar als äußerste Konsequenz eines Handelns, das der Verweigerung den größeren Stellenwert einräumt als der Nüchternheit der Verhältnisse oder dem Auftrag der „Biologie“.

Der Sohn heißt komischerweise Ari, und in den letzten Jahren ihres Lebens ist Nico als ramponierte, aber unverjammerte Gestalt mit ihrem Harmonium durch die Lande gezogen, eigenartige Marketenderinnen-Type, Mutter Velvet, Dark Wave ohne Tuchfühlung zu jüngeren Stämmen. Im Programm, neben Jim Morrisons „The End“, auch eine Gothic-Version des Deutschlandlieds – „weil, als ich ein kleines Mädchen war, und am Schöneberger Rathausplatz ... da haben all die Leute das gesungen“, wie sie Konrad Heidkamp in einem 1987 in der taz erschienenen Interview verraten hat.

Die letzten Worte im Film sind andere. Sie bereue nichts, sagt Nico in Piaf-Manier, nur eines wünsche sie sich: im nächsten Leben als Mann geboren zu werden.

„Nico Icon“, Deutschland 1995, Regie und Buch: Susanne Ofteringer. Kamera: Judith Kaufmann, Katarzyna Remin.