Trübe Bilanz der Behindertenverbände

■ Ein Jahr nach der Grundgesetzänderung hat sich die Situation für die acht Millionen Behinderten in Deutschland verschlechtert. Arbeitgeber stellen weit weniger ein als ihnen der Gesetzgeber vorschreibt

Frankfurt/Main (taz/dpa) – Eine negative Bilanz bei der Umsetzung des im Grundgesetz verankerten Benachteiligungsverbotes Behinderter haben die hessischen Landesvertretungen der Sozialverbände und Behindertenorganisationen in Frankfurt am Main gezogen. Am 15. November 1994 war zusammen mit den übrigen Verfassungsänderungen in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes das Gebot wirksam geworden: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Seitdem habe sich die Lage der Betroffenen eher verschlechtert, heißt es in den Erklärungen des Sozialverbandes VdK, des Reichsbundes und der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL).

Schuld daran ist der „Abbau des Sozialstaates“, meint der Bundesgeschäftsführer des Sozialverbandes VdK, Ulrich Laschet. „Da geht es ganz schön zur Sache.“ Nicht nur Sozial- und Arbeitslosenhilfe seien gekürzt worden, sondern auch die anstehende Verteuerung des Telefonierens würde vor allem behinderte Menschen treffen. Am 2. Dezember tagen sämtliche Behindertenverbände einen Tag lang im Bonner Wasserwerk. Laschet hofft, daß von diesem Behindertenparlament „eine Signalwirkung an die Politik“ ausgeht.

Die Träger der öffentlichen Nahverkehrsmittel und der Bahn AG, beklagten die Verbände, weigerten sich nach wie vor, Fahrzeuge einzusetzen, die auch Menschen im Rollstuhl ohne fremde Hilfe benutzen könnten. Die statt dessen vor allem von der Bahn angebotene persönliche Hilfe scheitere oft am Personalmangel.

Auch erfüllten die Arbeitgeber immer weniger die Vorschrift des Schwerbehindertengesetzes, nach dem mindestens sechs Prozent ihrer Stellen mit schwer- und schwerstbehinderten Menschen besetzt werden müssen. Bundesweit liegt die Quote bei 4,2 Prozent. Während selbst die öffentliche Hand mit 5,2 Prozent Schwierigkeiten hat, das Quorum nicht erfüllt, sieht es in der Privatwirtschaft noch schlimmer aus: Hier liegt man gut ein Drittel unter der Norm. Das geht aus den jüngsten Daten hervor, die von der Bundesanstalt für Arbeit im Oktober 1993 erhoben wurden.

In den letzten Jahren hat die Quote weiter zwischen ein und zwei Zehntelprozentpunkten abgenommen. Die Ausgleichsabgabe für jede nicht pflichtmäßig besetzte Stelle beträgt monatlich 200 Mark. Nach übereinstimmender Auskunft der Behindertenorganisationen ist sie viel zu gering, um noch eine Steuerungsfunktion zu haben. Doch eine Änderung „steht bei uns zur Zeit überhaupt nicht zur Debatte“, heißt es im zuständigen Arbeitsministerium.

Ferner kritisierten die Verbände, daß den rund 151.000 Schwerstbehinderten in den Werkstätten für Behinderte der volle Arbeitnehmerstatus vorenthalten werde. Christoph Oellers