■ Der Befreiungsschlag der SPD war ein Enkelmord
: Schützenkönig und Willy Brandt

Was eine befreiende Klärung hätte werden können, inszenierte der SPD-Parteitag als Putsch, als schnelles Meucheln seines taumelnden Vorsitzenden Rudolf Scharping. Keine Diskussion, keine Debatte über Inhalte, am Vorabend lediglich eine fulminante Testrede eines offenbar bis zuletzt zögernden Oskar Lafontaine.

Keine Frage, daß Scharping, der sich als Mischung aus Schützenkönig und Willy Brandt gab, für sein Amt ungeeignet war. Immerhin aber hatte sich im Juni 1993 eine relative Mehrheit von 40 Prozent der Genossen für eben jene zögerliche Konzeptionslosigkeit entschieden, und das angesichts der Herausforderungen der Zukunft. Scharping war nie das Problem der SPD, er repräsentierte es vielmehr virtuos wie kein anderer.

Auf dem Mannheimer SPD-Parteitag wurde versucht, den Repräsentanten eigener Schwäche und Orientierungslosigkeit zu beseitigen. Ob damit bereits jene Konzeptionslosigkeit, die die gesamte Partei erfaßt hat, erledigt ist, steht zu bezweifeln. Sicher, Oskar Lafontaine ist der Mann, der der Bonner Saumagen-Politik ernsthafte Utopien entgegensetzen und vor allem der sie verkörpern kann. Er ist noch immer Hoffnungsträger bis weit in das Lager grüner Wähler hinein. Dennoch läßt der putschähnliche Machtwechsel Fragen offen. Das programmatische Loch, das Scharping für die Seinen wacker vertreten hat, ist mit einem Personalwechsel nicht gefüllt. Die körperliche Starre, mit der Scharping bis zuletzt die Erstarrung seiner Partei repräsentierte, ist durch einen schnellen Personalentscheid nicht gelöst.

Der Mannheimer Parteitag hat eine überfällige Personalentscheidung gefällt. Die ebenso überfällige inhaltliche Diskussion über die gewaltigen ökologischen, sozialen und außenpolitischen Herausforderungen der Zukunft steht aus. Lafontaines Chance liegt in der Wiederaufnahme inhaltlicher Diskussionen, in Entwürfen und Utopien, mit denen sich Mehrheiten identifizieren können. Wenn die Genossen jene Starre ablegen, die Scharping verkörperte, und zu Konzepten zurückfinden, die über das Ego von Landesfürsten hinausweisen, besteht die ernsthafte Chance, den Bonner Kanzlerhaufen durch eine Politik der Zukunft abzulösen. Micha Hilgers

Psychoanalytiker in Aachen