Nur wenige waren eingeweiht. Dann kam der Paukenschlag. Oskar Lafontaine entschied sich für den Königsmord: Ich kandidiere. Eine Stunde später das Ergebnis: Rudolf Scharping war besiegt. Von der satten Mehrheit der Genossen. Jetzt jubelten

Nur wenige waren eingeweiht. Dann kam der Paukenschlag. Oskar Lafontaine entschied sich für den Königsmord:

Ich kandidiere. Eine Stunde später das Ergebnis: Rudolf Scharping war besiegt. Von der satten Mehrheit der Genossen. Jetzt jubelten sie. Endlich hatten sie sich aus der Agonie geschlagen. Zur Rettung der Sozialdemokratie. Scharping nahm die Klassenkeile hin, bewies Größe und reichte dem Gegner die Hand. Pause. Die weiteren Vorstandswahlen liefen in sozialdemokratischen Bahnen ab. Der König wurde Vize.

Genosse Brutus!

Im Moment der Entscheidung zwischen „Oskar und Rudolf“ hatte der hessische Ministerpräsident Hans Eichel als Tagungsleiter gebeten, „die Kameras wegzuschwenken und nicht in die Delegiertentische hineinzuhalten“. Die 523 Delegierten und MandatsträgerInnen, sonst jede Sekunde belauert von 1.500 JournalistInnen, wurden von Eichel beschworen: „Ja oder ein Kreuz, Genossen!“

Zwanzig Minuten dauerte die Auszählung. Dann das sensationelle Ergebnis: eine überwältigende Mehrheit für Oskar Lafontaine. Der Jubel des Parteitags klang wie ein Erlösungsschrei, die Delegierten applaudierten stehend.

Rudolf Scharping nickte geschlagen. Mit wehmutsvoller Miene gratulierte er dem Sieger; Die beiden sahen sich lange ernst in die Augen. Ob es Enttäuschung war oder Erleichterung, als der Verlierer seine Frau Jutta Scharping umarmte, darüber wurde schon Sekunden später spekuliert. Mit erstaunlich kraftvoller Stimme sagte er gleich anschließend auf dem Podium dem neuen Parteichef seine Unterstützung zu. Als Hans Eichel dem scheidenden Parteichef für seine zwei Jahre Arbeit als Parteivorsitzender dankte, bekam Scharping so viel Applaus wie noch nie auf einem Parteitag.

Zwei Stunden vorher hatte es in der Halle gesummt wie in einem Hornissenschwarm. Innerlich aufgepeitscht, waren die GenossInnen nach einer langen, alkoholfeuchten und emotionsgeladenen Nacht beim Parteifest aufgewacht – und niemand wußte, was werden würde. Bei Bier, Sekt und Dixieland hatten sich im Pfalzbau in Ludwigshafen statt vergnügungssüchtiger Parteitagsfestivität Grüppchenansammlungen gebildet, waren Gerüchte und Botschaften hin und her gegangen.

Gegen Mitternacht hatten dann die wichtigsten Männer der Sozialdemokratie endgültig entschieden, daß das persönliche Duell des ausstrahlungsarmen Parteiarbeiters und des polarisierenden Volkstribuns unausweichlich sei, wenn die Partei nicht auseinanderfallen solle.

Noch bevor Scharping am Mittwoch abend zum Fest erschien, hatte er sich dazu durchgerungen, den Herausforderer zum Duell zu zwingen. Zu deutlich war die unausgesprochene Kampfansage in der Rede Lafontaines gewesen, die von den Delegierten mit Ovationen und Jubelrufen gefeiert worden war. So mußten prominente Sozialdemokraten wie Hans Eichel, Kurt Beck und Hans-Jochen Vogel auf dem Parteiabend keine große Überzeugungsarbeit mehr leisten.

„Oskar“ habe sich, so Insider, schon noch ein bißchen bitten lassen. Saarländische Delegierte riefen sich gegenseitig zur Hilfe, um ihn „da hinzuschieben“. Noch gegen Mitternacht hatten Vertraute des Saarländers verbreitet, es sei noch alles „offen“. Aber eine der mächtigsten Gruppen, die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), hatte „Oskar“ mit Liebesentzug gedroht, falls er nicht zur Kandidatur antrete.

Die erste Pressekonferenz des neuen, kleinen Parteivorsitzenden gestaltete sich gestern nachmittag im Mannheimer Rosengarten zum burlesken Fiasko. Oskar Lafontaine saß auf dem Gang, weil er nicht mehr in den Saal im Obergeschoß hineinpaßte. Währenddessen harrten drinnen die Kamerateams seiner, warteten vergeblich und skandierten wütend „Oskar! Oskar!“, brüllten „Anarchie!“ Lafontaine blieb draußen vor der Tür und richtete sich hinter einem Mikrofon ein. Dort war dann von „Oskar“ auch nicht viel zu sehen. Während er wiederholte, was er tags zuvor alles schon gesagt hatte, ließ sich bestenfalls gerade ein Blick auf seine Cäsarenfrisur zu erhaschen.

Scharping-Mitarbeiter vermuteten gestern, daß Lafontaine seine Attacke schon lange plante, und suchten Indizien: Da war doch am Mittwoch dieser Gesichtsausdruck Lafontaines, der einem Parteimann aus dem Lager Scharpings irgendwie bekannt vorkam. In sich gekehrt, offenbar gegenüber der Außenwelt völlig abgeschottet, saß der stellvertretende SPD-Vorsitzende in den Minuten vor seiner fulminanten Rede auf dem Podium. Zuletzt, so dämmerte es dem Scharping-Mann dunkel, hatte Lafontaine diese Miene vor drei Wochen im SPD- Parteivorstand zur Schau getragen. Da hatte er sich gesammelt, um dann dem Gremium eine Arbeitsteilung der SPD-Ämter vorzuschlagen, die Scharping entmachtet hätte. Andere spekulierten: Was wußte Schröder? Zog Rau die Fäden?

Auch Rau, ohne den in den vergangenen Jahren kaum eine wichtige Entscheidung der Partei zustande gekommen war, hatte Lafontaine im Vorstand damals nicht ermuntert. Gestern morgen aber setzte sich der NRW-Ministerpräsident mit Scharping und Lafontaine zusammen und forderte den Saarländer auf, sich zu stellen. Rau hatte schon in der Nacht signalisiert, daß er sich, trotz seiner anderslautenden Aussagen, nicht gegen Lafontaine sperren werde. Auch Raus eigener Landesverband war nach der Lafontaineschen Gefühlsdusche vom Mittwoch nicht mehr zu halten gewesen. Auch immer mehr der gefürchteten „Betonköpfe“ aus NRW erlagen ihren Emotionen. – Alleine saß Rau am Morgen vor der Abstimmung im Hotel am Frühstückstisch und bat nur darum, in Ruhe gelassen zu werden. Lafontaines Attacke hatte Gefühle freigesetzt, die auch der erprobte Regisseur des größten und mächtigsten Landesverbandes nicht mehr unter Kontrolle bekam. Der psychologische Druck der Basis war so groß, daß keine Planung mehr zog und ein führender Bonner Genosse nur noch kopfschüttelnd festellen konnte: „Die spinnen.“ Die Nordrhein-Westfalen hatten sich, wie alle Landesverbände, noch einmal am Freitag morgen versammelt und brauchten ein Megaphon, um sich im Untergeschoß verständlich zu machen. Dabei hatten einige GenossInnen Lafontaine hart angegriffen. Doch die vermutete Mehrheit von 80 Prozent für Scharping bröckelte zusehends weg.

Geschäftsführer Müntefering gab sich am Rande bedeckt und stellte sibyllinisch fest, „daß viel passiert und man sich dabei auch viel denken kann“. Die unversehens von der Mehrheit zur Minderheit geratenen „Rudolf-Getreuen“ murrten, der Parteitag arte „zum Saustechen“ aus.

Während parteiinterne Gegner Scharping noch als „Ritter von der traurigen Gestalt“ verspotteten, holte die CSU in einer ersten Stellungnahme schon gegen „den Linksruck“ und Lafontaine, „den Blender von Mannheim“, aus. Lothar Bisky von der PDS gratulierte artig. Im Präsidium aber, das sofort nach dem Wahlgang zusammentrat, herrschte seltsam gedrückte Stimmung. „Die saßen ziemlich bedröppelt zusammen“, beschreibt ein Zeuge die Atmosphäre. Auch da schwieg Rau und überließ es Lafontaine und anderen, den gedemütigten Scharping zur Kandidatur um den Stellvertreterposten aufzufordern. Der Pflichtmensch akzeptierte.

An der Basis, den Ständen der Ausstellung „Lebendiger Ortsverein“, fand die Entscheidung indes fast einhelligen Beifall. Norbert Schwidder, in Niedersachsen in Gorleben im Kampf gegen den Castor an der Front, sieht „Oskar“ lieber als Scharping. Und auch lieber als Schröder, denn dem hatte er seit den Konsensgesprächen zur Atomenergie nicht mehr getraut: „Der Oskar steht wenigstens zur Beschlußlage.“ Die Jusos aus dem saarländischen St. Wendel finden „das klasse“. Der Mann verblasse doch wenigstens im Wahlkampf nicht völlig neben dem Grünen Joschka Fischer: „Der muß jetzt nur noch lernen, innerparteilich zu integrieren. Das kann er noch nicht so gut.“ Am Stand des Landesverbandes trauert der Delegierte Gerhard Herzog: „Wir sind den ganzen Weg mit Scharping gegangen. Das ist eine persönliche Niederlage für jeden einzelnen.“

Klar ist den SPD-Bundestagsabgeordneten aber auch, daß Scharping jetzt in den ersten Wochen in Bonn einen schweren Stand als Oppositionsführer haben wird. Die Häme, mit der die Union den zum stellvertretenden SPD- Parteivorsitzenden degradierten Fraktionschef überziehen wird, klingt ihnen schon in den Ohren. Ein hochrangiger Fraktionsvertreter: „Ich stelle mir nur den Dicken vor. Der sitzt in Vietnam vor dem Bildschirm und lacht sich kaputt.“ Aus Mannheim Heide Platen

und Hans Monath