Wand und Boden
: Readymade-Mumie

■ Kunst in Berlin jetzt: Komar & Melamid, Paik, Pollmann, Spoerri

So wie der mumifizierte Lenin im Alltagsanzug ausgestellt wird, sagt der Kunsthistoriker Boris Groys, ist es für den Besucher des Mausoleums am Roten Platz sinnlich nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet dieser und kein anderer durchschnittlich gekleideter, durchschnittlich signifikanter Mensch an solch prominentem Platz ruht. Kaum gelesen, erinnert man sich der Praktiken moderner Kunst, alltägliche Dinge ununterscheidbar als Readymade ins Museum zu befördern. Ist der tote Lenin ein solcher Fall moderner Kunst im Sozialismus? Es sei eine politisch höchst brisante Angelegenheit, wie ein Brief von offizieller Seite an „die sehr geehrten Witalij Komar und Aleksandr Melamid“ auf ihr Projekt „Was tun mit dem Mausoleum?“ antwortet. Die Übersetzung findet sich in ihrer Berliner Installation, die einen „Vorschlag gegen die buchstäbliche Zerstörung des Lenin-Mausoleums“ macht. Damit ist alles gesagt. Es geht um die Umwidmung des Monuments und gegen das Verschwinden der Geschichte. Als altgediente Dandys der Soz-Art wissen Komar & Melamid die Zeichen und Symbole gegen den Strich zu bürsten. Der leninistische Memorabilia-Kitsch ist hinter dem Modell des Mausoleums im Zentrum der Checkpoint Charlie Hall aufgebaut, als böse Überraschung. Vorne scheint der Lotse endgültig das Schiff zu verlassen: Ein bronzener Miniatur-Lenin steigt die Treppe des Mausoleums hinab. Das trägt ein Schriftband, auf dem „Mama“ das alte „Lenin“ überdeckt. Revolutionäres Rot und tiefes Schwarz, die bekannten Pathosformeln beherrschen die Szenerie. Die umlaufenden Wände sind allerdings mit Erinnerungsfotos, montierten oder computergrafischen alternativen Nutzungsvorschlägen bestückt, sowie mit Zeitungskopien, die den Abbau des internationalen Lenins dokumentieren. Das gibt der Installation ihren sehr ernsthaften Rahmen.

Bis 10. 12., Di–So 13–19 Uhr, Zimmerstraße 86–87.

Dandyesk und amüsiert zeigt sich dagegen Nam June Paik mit seinen neuen Arbeiten bei Rafael Vostell. „Nostalgie ist ausgedehntes Feedback“ nennt er einen seiner Videoschreine, die sich als bunt zusammengefügte, bunt bemalte und mit allerlei buntem Tand und Talmi überkrustete Wunschmaschinen erweisen. Feedback und Verstärkerröhren, Medientechnologie und Magnetaufzeichnung, das ist für Paik Kinderspiel. Der „Bionic Man“ inkorporiert alte Carlson- und Motorola-Fernsehchassis, während der „Fin de Siécle Man“ recht elegant rot-gelb-grün-blau betupfte Videocassetten und eine Tonbandspule recycelt. „High Tech Allergy“ ist der Titel von Paiks Werkschau, die jetzt im Kunstmuseum Wolfsburg startet. Sein Problem ist diese Allergie nicht. Alle Bilder und alle Kritik fallen im Kaleidoskop der Paik-Arbeiten eh in eins: Atomzeichen, Peace- und Verkehrsverbotszeichen, Models auf dem Laufsteg und Panzeraufmärsche im Desert-storm, Schlachtschiffe, Kriegsminister und Düsenflieger ergeben am Ende 99 Luftballons.

Bis 20. 1., Mo-Fr 15-19 Uhr, Sa 11-14 Uhr, Niebuhrstraße 2.

Von High-Tech kann bei Nam June Paik auch nie richtig die Rede sein – der Rechner, der seine Bild-Kaleidoskope organisiert, bleibt unsichtbar. High- Tech ist auch in der Installation von Tyyne Claudia Pollmann kein Thema. Die Künstlerin und ausgebildete Medizinerin mit finnisch-deutscher Staatsangehörigkeit geht in ihrer Ausstellung „erhitzt geschüttelt gelöst“ im Studio III des Künstlerhaus Bethanien der „Legislative“ und der „Exekutive“ medizinisch-wissenschaftlichen Arbeitens nach. Die Legislative, das sind die Paradigmen und Theorien, die dem medizinischen Handeln zugrunde liegen. Sie zeigt sich in Worten, die auf einen Zeitungsbogen gedruckt sind; und sie wird in Knetmodellen von Viren und Bakterien sowie deren Fotos sinnlich wahrnehmbar. Die Exekutive ist in Videoprints und Großfotos dargestellt: Bilder einer Operation. Aber eine Operation ist eine Operation ist eine Operation. Am Diskurs der Medizin interessiert heute anderes. Reparieren/Operieren verschaffte der Medizin längst nicht die Macht, die heute Produzieren und Generieren innewohnt. Pipette und Nährlösung sagen wenig über die dritte industrielle Revolution, in der die Medizin eine zentrale Position einnimmt, auch wenn in genau diesen Dingen die ökonomischen Interessen einer Zukunftsgesellschaft gezüchtet werden. Da wird etwas exekutiert, dem die Legislative nicht nachkommt. Weder medizinisch-biologisch-theoretisch noch juristisch. Das interessierte mich.

Bis 26. 11., Di–So 14–19 Uhr, Mariannenplatz 2.

Die in Formaldehyd schwimmenden Monstren, die man auf dem Weg zur Ausstellung bestaunt, sind pathologisch, anatomisch und drastisch. Skandale, die allerdings Totgeburten waren. Marina Dinkler präsentiert hier die „Les-Arten“ von Helen Spoerri, in der Ruine des Virchow-Hörsaales im Institut für Pathologie der Charité. Das Drumrum des Medizinhistorischen Museums ist einerseits durchaus aufregender als die „Visuellen Partituren“, Aquarellübermalungen und Collagierungen, die Helen Spoerri an alten Notenbüchern vornimmt. Andererseits ist der angeschlagene Raum des kriegszerstörten Hörsaals mit seinen rohen Backsteinwänden und dem massiven Betondeckel der ideale Ort für die großen, rahmenlos gehängten oder gespannten Leinwände, auf denen Spoerri, Jahrgang 1937, ihre ethnografischen, malerischen Erkundungen Afrikas und Australiens „biographiert“. Und die weiße Transparenz ihrer Papierarbeiten, die simple, fragile Linie des beschützenden Bogens, der sich etwa bei „Namibia“ über einer Reihe von Gefäßen spannt, wird an den Ruinenwänden zum Lichtblick.

Bis 5. 12., Mi–Fr 14–18 Uhr, Charité, Schumannstraße 20–21. Brigitte Werneburg