■ Ökolumne
: Strahlende Stopfgänse Von Hermann-J. Tenhagen

Da haben wir es. Die ostdeutsche Bundesumweltministerin Angela Merkel darf nach dem Magdeburger Urteil vom Donnerstag ihre Leidensgenossen aus den fünf neuen Ländern auch künftig mit soviel Atommüll stopfen, wie hineingeht. Das Land Sachsen-Anhalt, befanden die Richter, kann das Atomklo Morsleben nicht dichtmachen. CDU-Frau Merkel läßt in Morsleben leicht- und mittelradioaktiven Müll in die Schlünde eines alten löchrigen Salzbergwerks pressen. Und im schwarzen Wahlkreis Ostvorpommern können die Bürgerinnen und Bürger den atomaren Hals scheinbar gar nicht voll bekommen. Kaum ist das größte deutsche Atomkraftwerk in Greifswald abgeschaltet, bekommen sie das größte Atommüllager Zentraleuropas geschenkt – und den Atommüll aus Ost und West gleich dazu. Den Landsleuten muß was geboten werden.

Es kommen gerade in Ostdeutschland auch nur wenige auf die Idee, Skandal zu schreien. Atommüll und ähnlicher Schrott kam schon immer da hin, wo die Gänse, pardon: Bürger danach riefen oder nicht laut genug dagegen anschreien konnten. In der alten Bundesrepublik war dies das Grenzgebiet zur DDR. Dort durfte die eine Hälfte der Betroffenen nicht schreien. Die andere Hälfte in dem dünnbesiedelten Grenzgebiet gedachte man schon selbst zur Räson zu bringen. Geld für die Honoratioren oder Polizeiknüppel.

Die Unfähigkeit, laut genug zu schreien, prädestinierte die Bewohner in manch ostdeutschem Landstrich, nach der Wende mit gefährlichem und strahlendem Dreck gestopft zu werden. Das Kalkül der Atomkamarillas in Ministerium und Industrie: Die dummen Gänse im Osten sind es nicht gewohnt aufzumucken, sie sollen den ganzen (auch den westdeutschen) Atomschrott schlucken und ansonsten dankbar für die Vereinigung sein. Das Endlager von Morsleben mag gefährlich und unbekömmlich sein, die Ostdeutschen haben zu Honeckers Zeiten ihren eigenen Atommüll dort geschluckt, sie dürfen es auch in der neuen Atomdemokratie weiter tun.

Und mit den paar Vögeln, die dann doch noch zu laut schreien, wird formal demokratisch umgegangen: Sie werden von verständnisvoll blickenden Verwaltungsrichtern im Gänsemarsch auf die lange Reise von Gericht zu Gericht geschickt. Im ersten Durchgang teilen die Richter den erstaunten Schreihälsen mit, daß das löchrige, unübersichtliche, unerforschte, mit gefährlichem Giftmüll beschickte Atommüllager Morsleben unbestreitbar einen Vereinigungssegen bekommen hat. Der neue Betreiber sei der demokratische Staat, der werde schon aufpassen. Bis zum Jahr 2000 sei der Atommüll dort jedenfalls ganz sicher sicher.

Für die paar Schreihälse, denen das als Auskunft noch nicht reicht, richtet der demokratische Staat einen zweiten Durchgang ein. Unzufriedene könnten ja den Klageweg von vorne anfangen und bei der zuständigen Landesverwaltung auf Schließung des Atommüllagers klagen, sagen die Bundesrichter. Schließlich biete diese Republik auch Schreihälsen Rechtsschutz.

Den Juristen vor Ort in Sachsen-Anhalt leuchtet das wiederum nicht ein. Warum sollen sie sich mit den Befürchtungen der linken Vögel auseinandersetzen, womöglich einen Clinch mit dem Atomstaat riskieren, bloß weil die Bundesrichter den Schreihälsen nicht alle Klagerechte gegen diesen Atomstaat entziehen mögen. Das Atommüllager, so die Landesverwaltung, gehöre schließlich dem Bund, sei von ihm mit einer demokratischen Genehmigung gesegnet. Nur gegen den Bund könne man diese Genehmigung wegklagen. Schreihälse ab in die dritte Runde. Die Bundesbeamten feixen und trinken anschließend einen Sekt darauf.

Alles real, alles Alltag, keine Polemik. Und dennoch beschleicht den zynischen Chronisten des Atomstaats ein ungutes Gefühl. Die Gänse und die Schreihälse – waren das nicht immer die Vögel, die den aufmerksamen Zeitgenossen vor drohendem Unheil warnen

sollten?